"Ein Gas- und Ölboykott wäre dramatisch"

"Ein Gas- und Ölboykott wäre dramatisch"

"Ein Gas- und Ölboykott wäre dramatisch"

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf in der FAZ zu den Folgen des Ukraine-Krieges für die Industrie und was die Politik jetzt tun sollte und was nicht:

Herr Wolf, die offene, fast grenzenlose Weltwirtschaft ist die Erfolgsgrundlage der deutschen Industrie. Was folgt aus der Konfrontation mit Russland und der neuen Weltlage – erleben wir womöglich gerade das Ende der Globalisierung?

Auch wenn in diesen Zeiten vieles nicht mehr unumstößlich erscheint: Das kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich führt der furchtbare Krieg in der Ukraine, neben allem menschlichen Leid, auch wirtschaftlich zu heftigen Verwerfungen. Da sind die drastisch steigenden Energiepreise und es sind Lieferketten gestört durch Produktionsausfälle in der Ukraine. Aber ich sehe nicht, warum dies auf das Ende einer im Grundsatz offenen, vernetzten Weltwirtschaft zulaufen sollte.

Teure Energie verteuert Transporte, das trifft den ganzen Welthandel. Und wir erleben die veränderte Rolle Chinas in diesem Konflikt. Was, wenn die Welt wie im Kalten Krieg in Blöcke zerfällt?

Bei allen Risiken, ich bin da nicht so pessimistisch. Man sollte die Kraft des Ökonomischen nicht unterschätzen. Denn was hat die Globalisierung in den vergangenen 20, 25 Jahren bewirkt? Sie hat so vielen armen Ländern und den Menschen dort einen Zugang zu steigendem Wohlstand verschafft. Es kann doch niemand ernsthaft anstreben, dass das alles wieder zurückgedreht wird. Ich bleibe auf jeden Fall ein entschiedener Befürworter der Globalisierung.

Aber auch hierzulande häufen sich Rufe nach einer Rückverlagerung von Produktion, nach mehr Autarkie.

Richtig ist, dass wir bei Investitions- und Standortentscheidungen künftig deutlich stärker auf Liefersicherheit und politische Risiken achten müssen. Das haben schon die Folgen der Corona-Pandemie gezeigt – Stichwort: Chipmangel in der Autoindustrie. Und jetzt erleben wir ja gerade, was passiert, wenn plötzlich die Produktion von Kabelbäumen in der Ukraine ausfällt: Wieder stehen in der Autoindustrie der Bänder still. Tatsächlich wurde in der Vergangenheit manche Auslandsinvestition etwas zu einseitig an Kriterien wie niedrigen Lohnkosten und Steuern ausgerichtet. Das wird sich ändern müssen.

Also doch weg von der Globalisierung?

Nein, das heißt es nicht. Unsere Unternehmen haben ja auch nicht allein deshalb in Produktionsstätten im Ausland investiert, um damit hohen Lohn- und Produktionskosten im Inland auszuweichen. Es ging immer auch darum, neue Märkte zu erschließen, auf denen unsere Unternehmen als bloße Exporteure nur schwer Fuß gefasst hätten. Solange es Länder gibt, in denen sich dieser Ansatz zum beiderseitigen Vorteil nutzen lässt, wird es dieses Bestreben immer geben. Und indirekt tragen diese Investitionen immer auch dazu bei, Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Deshalb: Ja, wir müssen Lieferketten sicherer machen, zum Beispiel Bezugsquellen stärker diversifizieren. Aber eine Abkehr von internationaler Arbeitsteilung wäre völlig falsch.

Der Ruf nach einem vollständigen Gas- und Ölboykott wird in der aktuellen Debatte immer lauter...

Hier müssen wir realistisch sein. Wenn Deutschland sich dazu entschließen sollte, kein Gas oder Öl aus Russland mehr zu importieren, würde sich das dramatisch auf unsere Industrie, aber auch auf die Privathaushalte auswirken. Die Inflation wäre zweistellig. Die Versorgungssicherheit wäre ernsthaft gefährdet. Allein durch eine Abschaltung von Nord Stream 1 würden ca. 550 Terawattstunden ausfallen, bei einem Bedarf von rund 950 Terawattstunden pro Jahr. Langfristig ist klar, dass wir unabhängiger von russischen Importen werden müssen, kurzfristig fehlen uns aber trotz der Bemühungen von Bundesregierung und EU-Kommission schlichtweg die Alternativen.

Wie wirken sich der Krieg in der Ukraine und der Konflikt mit Russland derzeit auf Ihr Unternehmen aus, den Autozulieferer Elring-Klinger?

Wir gehören zwar nicht zu den rund 2.000 deutschen Unternehmen, die Beteiligungen in der Ukraine haben und nun ganz direkt vom Krieg betroffen sind – deren Mitarbeiter nun schlicht um ihr Leben fürchten müssen. Mittelbar sind die Auswirkungen aber auch für uns erheblich: Eben weil ein Zulieferer in der Ukraine keine Kabelbäume mehr produzieren kann, stehen in der Autoindustrie nun schon wieder die Bänder still. Und damit nehmen die Hersteller automatisch auch entsprechend weniger von unseren Antriebskomponenten ab. So geht es jetzt natürlich ganz vielen Zulieferern. Das zeigt, wie verletzlich manche unserer Lieferketten bisher sind.

Sind das Probleme der Autoindustrie oder gilt das für alle Branchen?

Die Gefahr solcher Ausfälle gibt es natürlich in vielen Branchen. Allerdings schlagen sie in der Autoindustrie durch ihre Strukturen – hohe Stückzahlen und Just-in-time-Produktion statt Lagerhaltung – sofort auf alle Bereiche durch. Bei einem großen Einzelprojekt im Maschinenbau zum Beispiel treten solche Probleme eher verzögert auf, und der Ausfall eines Bauteils bremst nicht immer gleich die ganze Branche. Aber für das einzelne Unternehmen kann es die Abläufe natürlich trotzdem empfindlich stören.

Wie gehen Sie und ihre Unternehmerkollegen jetzt mit dieser Lage um?

Das ist vor allem für unsere Mitarbeiter schon rein psychologisch ein sehr harter Rückschlag. Nach zwei Jahren mit all den Belastungen der Corona-Pandemie keimte gerade etwas neue Zuversicht auf – und nun wirft uns direkt die nächste Megakrise zurück. Umso wichtiger ist es, dass unsere Unternehmen jetzt dringend neue Zusagen der Bundesregierung benötigen, um in dieser Lage die Arbeitsplätze unserer Beschäftigten weiter zu sichern. Dazu brauchen wir auf jeden Fall noch einmal ein Nachsteuern bei den Regelungen zum Kurzarbeitergeld.

Die Ampelkoalition bringt doch gerade schon ein Gesetz auf den Weg, um die Corona-Sonderregeln für Kurzarbeit bis Juni zu verlängern. Reicht das nicht?

Leider greift das in dreierlei Hinsicht zu kurz. Erstens: Die Unternehmen brauchen damit jetzt eine Perspektive, die zumindest bis Jahresende 2022 reicht, denn bis Juni werden die neuen Probleme kaum ausgestanden sein. Zweitens: Die Unternehmen brauchen weiter die vollständige Entlastung von Sozialversicherungsbeiträgen auf das Kurzarbeitergeld. Und drittens: Es muss auch Zeitarbeitern der Zugang zu Kurzarbeit offen bleiben – was jetzt in der Industrie eine viel größere Rolle spielt als etwa im Gastgewerbe, das zuvor von der Corona-Krise besonders betroffen war. Mit dem bisherigen Entwurf würden alle diese Punkte nicht verlängert. Schon im Februar hatten dies viele Fachleute kritisiert, und das war noch vor dem Krieg in der Ukraine.

Die Politik soll auch für Entlastung von hohen Energiekosten sorgen. Sie haben dazu gemeinsam mit der IG Metall kürzlich einen Aufruf verfasst...

...in der Tat, das ist die andere Aufgabe, die jetzt ganz wichtig ist. Denn wir laufen da auf eine sehr, sehr schwierige Situation zu: Die Leute zahlen beim Tanken mehr als zwei Euro für den Liter Benzin, die Heizkosten schießen durch die Decke, und das alles sind Belastungen, denen sie ja nicht einfach ausweichen können.

Entsprechend höher werden die Erwartungen in den kommenden Lohnrunden sein, dass die Tarifpolitik für einen Ausgleich der Teuerung sorgt. Mit Recht?

Bis zu unserer nächsten Tarifrunde in der Metall- und Elektro-Industrie ist es noch einige Monate hin, da will ich jetzt nicht vorgreifen. Aber nach Lage der Dinge bekommen wir es mit einem ernsten Zielkonflikt zu tun. Denn die hohen Energiepreise treffen ja auch die Unternehmen. Nicht zu vergessen: Schon zuvor waren infolge der Pandemie die Materialpreise stark gestiegen.

Was also tun?

Umso mehr kommt es darauf an, dass die Politik alle Möglichkeiten ergreift, den Anstieg der Energiekosten mit ihren Mitteln zu dämpfen. Das heißt: Die Erneuerbare-Energien-Umlage gehört schnellstmöglich abgeschafft, die Stromsteuer muss auf das europarechtlich vorgegebene Minimum gesenkt werden. Und auch andere Verbrauchssteuern auf Energie, darunter die Mehrwertsteuer, sind zumindest zeitweilig zu senken.

Gerät nicht irgendwann der Staat an Grenzen seiner Leistungsfähigkeit?

Natürlich gibt es solche Grenzen, die man immer im Blick behalten muss. Aber das darf uns ja nicht daran hindern, die politischen Prioritäten richtig zu setzen – und zwar so, dass die Industrie als stärkster Motor unseres Wohlstands auch in Zukunft gut läuft. Umso wichtiger wäre, dass die Regierung in Berlin und die EU-Politiker in Brüssel endlich verstehen: Auch die Leistungsfähigkeit unserer Unternehmen ist nicht grenzenlos.

Haben Sie denn Zweifel, dass es dieses Verständnis gibt?

Allerdings. Welchen Eindruck soll man denn sonst haben angesichts der Pläne für immer neue Belastungen unserer Unternehmen? Es wirkt in vielen Politikbereichen so, als hätte man dort die neue Weltlage noch gar nicht mitbekommen: Der Mindestlohn wird außerplanmäßig auf 12 Euro erhöht, als sei nichts passiert. Sozialleistungen und -abgaben sollen steigen, als sei nichts passiert. Die EU macht mit ihrer sogenannten Lieferkettenrichtlinie weiter, als sei nichts passiert. Und dann will sie uns auch noch ein ganz neues bürokratisches Riesenmonster namens "Sozial-Taxonomie" schicken. Ich gehe da jetzt gar nicht ins Detail und sage nur: Politiker, die uns ausgerechnet jetzt zwingen wollen, noch mehr Soziallasten zu schultern und noch mehr Personal zum Ausfüllen von Formularen statt für Produktinnovationen einzusetzen – die sollen uns bitte nichts über Grenzen staatlicher Leistungsfähigkeit erzählen.

Trotzdem müssen Mehrausgaben für Kurzarbeit und Steuersenkungen irgendwie finanziert werden. Woher sollen die Mittel denn kommen?

Ich kann ihnen sagen, woher seit jeher ein besonders großer Teil der Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben kommt: Aus der Wertschöpfung in den Unternehmen unserer Industrie. Deshalb ist es ja so wichtig, anstelle immer neuer Regulierungen endlich die Rahmenbedingungen für unsere Arbeit konsequent darauf auszurichten, dass eine neue wirtschaftliche Dynamik entsteht. Denn ohne Industrie kein Wohlstand! Ich erwarte von der Regierung, dass sie es den Unternehmen in dieser Situation leichter und nicht immer schwerer macht, mit innovativen, wettbewerbsfähigen Produkten auf den Weltmärkten erfolgreich zu sein. Das führt am Ende auch dazu, dass der Staat höhere Einnahmen und Leistungsfähigkeit gewinnt.

Wenn wichtige Lieferketten in Zukunft stärker abgesichert werden sollen, heißt das ja, dass – zum Beispiel – wieder mehr Kabelbäume in Deutschland produziert werden. Könnte auch das hierzulande zu mehr Wirtschaftswachstum führen?

Das ist theoretisch denkbar. Allerdings ist das natürlich auch eine Kostenfrage: Werden Kabelbäume oder andere Zuliefererteile nicht mehr mit ukrainischen, sondern mit deutschen Lohn- und Produktionskosten hergestellt, dann werden die Autohersteller nicht einfach sagen können: Wir zahlen trotzdem weiter den alten Preis für den Kabelbaum. Das gesamte Produkt wird dann teurer.

Und dann schrumpft die Absatzmenge.

Ist das Produkt gut genug, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein, dann kann die Rechnung aufgehen. Bei alledem ist aber eines auch sehr wichtig: Ich will trotz der gerade so schlimmen Lage in der Ukraine noch nicht die Hoffnung aufgeben, dass dort irgendwie eine Rückkehr zu friedlichen Verhältnissen gelingen könnte. Auch wenn es derzeit so wenig danach aussieht: Am liebsten wäre mir, wir könnten schon bald am wirtschaftlichen Wiederaufbau der Ukraine mitwirken.

Das Gespräch führte Dietrich Creutzburg, FAZ. Erschienen am 11. März 2022.

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