"Entscheidend wird sein, wie lange die Krise dauert."
"Entscheidend wird sein, wie lange die Krise dauert."

Gesamtmetall-Präsident. Dr. Rainer Dulger in der WELT zur wirtschaftlichen Lage der Metall- und Elektro-Industrie, dem Konjunkturpaket der Regierung und dem Recht auf Homeoffice
Der Shutdown hat Deutschlands wichtigste Schlüsselindustrie hart getroffen. Kehrt jetzt mit den Lockerungen die Normalisierung zurück?
Von einer Normalisierung sind wir weit entfernt. Nahezu alle Unternehmen unserer Industrie sind inzwischen von der Krise betroffen. In unserer Mai-Umfrage unter 1.400 Mitgliedern geben fast alle an, dass ihre Produktion beeinträchtigt ist. 40 Prozent sagen sogar, dass sie stark oder sehr stark eingeschränkt sind. Da kommen wir so schnell nicht raus. Normalität wird es erst geben, wenn es einen weltweit verfügbaren Corona-Impfstoff oder wirksame Therapien gibt.
Rechnen Sie mit einer Pleitewelle?
Es wird Pleiten geben, und es wird auch Entlassungen geben. In der Finanzkrise 2009 haben wir zwar gesehen, dass die Betriebe es selbst bei zehn Monaten Kurzarbeit geschafft haben, die Arbeitsplätze zu erhalten, weil das Geschäft danach zügig wieder anzog. Aber diesmal ist es anders: Wir steckten schon vorher in der Rezession und dann kam Corona noch hinzu. Im April und Mai waren wir bei schätzungsweise zwei Millionen Kurzarbeitern – doppelt so viele wie 2009. Das zeigt das gewaltige Ausmaß der Krise. Wenn das noch viele Monate andauert, hält das keiner durch. 35 Prozent unserer Betriebe sagen, dass sie Entlassungen in Zukunft nicht ausschließen können. Entscheidend wird sein, wie lange die Krise dauert.
Was ist das größte Problem?
Die Lieferketten sind wieder weitgehend intakt. Der Nachfrageeinbruch ist jetzt das größte Problem. Wir sind eine Exportnation, die meisten Mittelständler haben weit über 50 Prozent Exportanteil. Und da gibt es weiter große Einbußen. Die gute Nachricht ist, dass in China vieles wieder normal läuft. Die umliegenden Länder wie Korea und Japan sind auf dem besten Weg dorthin. Aber Amerika rutscht jeden Tag tiefer in die Krise hinein. Und in der EU ist die wirtschaftliche Lage in vielen Ländern noch schlechter als bei uns. Die fehlende Nachfrage der Verbraucher wird andauern. Diese Zurückhaltung können wir nur sehr schwer überwinden. Die Bundesregierung hat getan, was sie konnte. Aber jetzt müssen wir abwarten, wie der Verbraucher sich verhält.
Sie sind also zufrieden mit dem Konjunkturpaket der Großen Koalition?
Ich hätte eine Kaufprämie für saubere Diesel und Benziner begrüßt, die fehlt in dem Paket. Aber ansonsten ist viel Richtiges dabei: Zuschüsse, steuerlicher Verlustrücktrag, degressive Abschreibung – alles, was den Unternehmen hilft, Liquidität zu halten.
Da klingen Sie weniger empört als die IG Metall, die der SPD wegen der Verhinderung der Kaufprämie für Verbrenner vorwirft, Jobs zu gefährden.
Die Angst um Arbeitsplätze teile ich. Und den Ärger auch, zumal der SPD-Vorsitzende behauptet hatte, dass die Kaufprämie nur den Bossen und den Aktionären nütze, nicht den Mitarbeitern und der Konjunktur. Mit diesen absurden Aussagen hat die SPD-Spitze gezeigt, dass sie die Lage nicht verstanden hat.
Hätte die Gewerkschaft besser vorher lauter mit den Verbänden für die Prämie trommeln müssen?
Nein, die IG Metall hat sich gemeinsam mit den Verbänden für die Prämie eingesetzt. Deswegen ist jetzt auch die Enttäuschung groß. Aber ihren Streit müssen die Gewerkschaft und die SPD unter sich ausmachen. Für uns ist jetzt wichtig, den Aufschwung weiter zu fördern. Das geht auch ohne Geld.
Wie?
Die Arbeitszeit der Beschäftigten ist ein einfacher Hebel. Flexibilisierung tut Not gerade in Zeiten wie diesen, wo unklar ist, ob und wann Aufträge kommen. Wir sollten das Modell der EU übernehmen, demzufolge die Höchstzahl an Stunden pro Woche, nicht pro Tag zählt. Im Konjunkturpaket steht auch, dass die Lohnzusatzkosten zumindest bis Ende 2021 bei 40 Prozent gedeckelt werden. Das muss man dauerhaft und mit einem Gesetz regeln. Das wäre ein wesentlicher Beitrag zu dem Belastungsmoratorium für die Industrie, das wir wegen der Rezession schon vor der Corona-Krise gefordert haben.
Das Konjunkturpaket sieht auch eine Deckelung der EEG-Umlage vor. Reicht der Industrie die Entlastung bei den Stromkosten?
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, der nicht nur der Industrie, sondern auch den Verbrauchern nutzt. Damit ist die Diskussion, wie es mit der Energiewende weitergeht und ob wir uns in die richtige Richtung bewegen, natürlich nicht beendet. Aber es ist sinnvoll, wenn die Politik jetzt nicht gleich ihr ganzes Pulver verschießt. Wir müssen sehen, wie die Konjunktur im Sommer und im Herbst läuft. Diese Krise ist noch lange nicht vorbei und es kann sein, dass wir Nachsteuerungen und auch weitere Hilfspakete brauchen.
Ist die Dimension der schuldenfinanzierten Hilfen, die jetzt in Deutschland und innerhalb der EU beschlossen werden, noch vertretbar?
Die Unterstützungsmaßnahmen kosten sehr viel Geld. Aber ohne diese Hilfen drohte eine unvorstellbare Pleitewelle, die einen enormen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten würde. Deshalb sind die Maßnahmen richtig und auch im Umfang angemessen. Die Geldbeträge erscheinen gigantisch, aber allein der Jahresumsatz der deutschen Metall- und Elektro-Industrie lag 2019 bei 1,2 Billionen Euro. Daran lässt sich ermessen, welche unglaubliche Wirtschaftskraft dieses Land hat. Nach der Krise werden wir deshalb auch genügend Kraft haben, die Schulden, die jetzt gemacht werden, wieder zurückzuzahlen.
Müssen sich die Beschäftigten der Metall- und Elektrobranche auf Lohneinbußen einstellen?
Das kann man angesichts der weiterhin höchst unsicheren Konjunkturlage nicht seriös beantworten. Es war sinnvoll, dass wir im M+E-Tarifabschluss im März keine Tariferhöhung vereinbart haben. Ich stehe aber im engen Dialog mit IG-Metall-Chef Jörg Hofmann, um zu besprechen, was in dieser akuten Krisensituation zu tun ist.
In der Krise hat sich das Arbeiten im Homeoffice bewährt. Bundesarbeitsminister Heil will ein Gesetz für ein Recht auf Homeoffice. Könnte der auch von Gewerkschaften geforderte Rechtsanspruch der Arbeitnehmer auf mobiles Arbeiten Teil der Tarifverhandlungen werden?
Die Möglichkeit zum mobilen Arbeiten wurde in der Krise in sehr vielen Unternehmen genutzt und hat auch meist gut funktioniert. Nach der Krise wird man sehen, ob künftig auf Dauer ein größerer Anteil der Arbeitnehmer mobil arbeitet. Auf jeden Fall ist die Akzeptanz gestiegen, und die technischen Möglichkeiten haben sich verbessert.
Und der Rechtsanspruch?
Grundsätzlich gilt, dass der Arbeitgeber bestimmt, wo der Ort der Leistungserbringung ist. Um unsere gesamte Arbeitsorganisation nicht komplett durcheinanderzubringen, muss das auch so bleiben. Die Krise hat gezeigt, dass der Dialog zwischen Arbeitgebern und den Mitarbeitern beim Thema mobiles Arbeiten funktioniert und ein Gesetz überflüssig ist. Im Übrigen haben wir schon 2018 mit der IG Metall einen Tarifvertrag zu den Rahmenbedingungen für mobiles Arbeiten abgeschlossen.
Vor einem Jahr war der Frust über die große Koalition in der Wirtschaft groß. Hat sich das in Corona-Zeiten geändert?
Die Politik der Bundesregierung war vor der Krise geprägt vom Verteilen sozialer Wohltaten und von immer neuen Belastungen für die Wirtschaft. Aber seit dem Ausbruch der Krise hat sich das komplett gedreht. In den vergangenen Wochen hat die große Koalition 150 Prozent Wirtschaftspolitik gemacht. Endlich besinnt man sich wieder darauf, wie wichtig die Wirtschaft und das Unternehmertum für das Land sind. Die Bundesregierung hat sich sehr bewährt in der Krise. Und wenn ich mit Geschäftspartnern in Asien oder in den USA spreche, höre ich immer wieder, wie sehr man dort Deutschland bewundert, vor allem für das gute Gesundheitssystem und die entschlossene Krisenpolitik der Regierung und des Parlaments. Es gibt vieles, worauf wir hier im Land stolz sein können.
Das Interview führten Christine Haas und Dorothea Siems, WELT. Erschienen am 19. Juni 2020.