"Weil es um die Akzeptanz des Tarifsystems insgesamt geht"
"Weil es um die Akzeptanz des Tarifsystems insgesamt geht"

Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung über die Lohnpolitik der IG Metall – und welche Konsequenzen die Unternehmen seiner Industrie daraus ziehen könnten
Herr Dulger, Sie haben ein Leitbild vorgelegt, aus dem klar hervorgeht: Sie wollen weg vom bisherigen Tarifsystem. Sind Sie von der IG Metall so genervt?
Das Leitbild ist Rückblick, Positionsbestimmung und Zielvorstellung zugleich. Darüber wollen wir mit der Gewerkschaft reden, insbesondere nach neun wirtschaftlich fetten Jahren. Wenn Sie neun Jahre hintereinander volle Auftragsbücher haben und Ihre Mitglieder während einer Tarifrunde sagen, dass ein Streik nicht so günstig wäre, führt das dazu, dass Sie viele Kröten schlucken müssen.
Der große Vorteil von Tarifverträgen ist: Der Wettbewerb wird dadurch über Qualität und Service ausgetragen, und nicht über die Lohnkosten. Nun schreiben Sie: "Tarifbindung stellt per se keinen Wert dar." Was ist los mit Ihnen?
Jedenfalls bestimmt sich der Wert des Tarifsystems nicht allein danach, wie viel Prozent der Betriebe mit wie viel Prozent der Beschäftigten tarifgebunden sind. Denn auf all das, was wir Tarifpartner machen, haben wir kein Copyright. Wir denken uns vernünftige Lösungen aus, wie man die Arbeit in unserer Industrie organisieren und bezahlen kann. Und anschließend kann jeder Firmeninhaber, der nicht unser Mitglied ist und damit nicht unserem Flächentarifvertrag unterliegt, ihn kostenlos in Teilen übernehmen.
Ist das gut oder schlecht?
Das Problem ist: Die Flächentarifverträge regeln mittlerweile so viel, und sie sind so kompliziert, dass uns vor allem kleine und mittlere Firmen sagen: "Wir haben gar nicht die Fachkräfte in der Personalabteilung, um Ihre Tarifverträge bis ins Detail umzusetzen. Aber wir möchten trotzdem die Regelungen zur Arbeitszeit anwenden, wir möchten trotzdem Ihr Entgeltsystem übernehmen, oder Ihre Leistungen zur Altersvorsorge. Aber vielleicht nicht die Regelungen zur Weiterbildung oder Altersteilzeit." Solche Firmen treten zwar trotzdem unseren Arbeitgeberverbänden bei, wählen aber die sogenannte OT-Mitgliedschaft...
...was bedeutet: "Ohne Tarif"...
Genauer: Ohne Bindung an den Flächentarifvertrag. Diese Unternehmen halten sich dann nicht gezwungenermaßen, aber freiwillig an den Tarifvertrag, oder zumindest an große Teile davon. Deshalb sollten wir Tarifbindung künftig anders definieren. Wenn ein Tarifvertrag zum Beispiel aus maximal 25 Komponenten besteht, könnte man jeden als tarifgebunden bezeichnen, der mehr als fünf oder sechs davon akzeptiert.
Was bringt das?
Es würde uns gegenüber der Politik sehr helfen, den Wert des Tarifsystems zu erklären. Die Politik sagt sehr gerne: Die Tarifbindung sinkt, also gibt es Bedarf, dass wir einschreiten. Zum Beispiel, indem wir einzelne Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären. Wir hingegen sagen: Schauen Sie bitte genau hin, in Wahrheit halten sich sehr viele Firmen an Tarifregelungen, sie schreiben es nur nicht an die Tür. Wir merken, dass die Beschäftigtenzahlen bei den tarifgebundenen Unternehmen langsamer steigen als bei den Unternehmen ohne Tarifbindung. Wir haben derzeit etwa 3400 Mitgliedsunternehmen im Tarifverband, mit insgesamt knapp 1,9 Millionen Beschäftigten, und etwa 3900 in OT, mit 570.000 Beschäftigten. Die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband muss immer freiwillig sein. Das Grundgesetz garantiert nicht nur jedermann das Recht, Vereinigungen zu bilden, sondern auch das Recht, ihnen fernzubleiben. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen höhlen dieses Recht aus.
In Ihrem Leitbild steht, es gebe bei Verhandlungen und im Arbeitskampf keine Parität mehr zwischen Arbeitgebern und IG Metall. Wieso?
Sie hat uns in der Tarifrunde 2018 erstmals mit Tagesstreiks belegt Das hat uns drei Millionen Arbeitsstunden gekostet, dreimal so viel wie die ganzen Jahre davor. Wie können wir uns dagegen wehren? Gar nicht.
Sie könnten aussperren.
Das macht, wenn überhaupt, nur Sinn bei einem unbefristeten Streik, also nach einer Urabstimmung der Gewerkschaftsmitglieder. Darauf verzichtet die IG Metall wohlweislich. Die Aussperrung ist auch vom Zeitablauf her kein adäquates Gegenmittel.
Auf gut Deutsch: Bis Sie sie bei einem Tagesstreik organisiert hätten, ist der Tag vorbei. In anderen Branchen dauern Warnstreiks seit jeher einen ganzen Tag, im Verkehr, in der Druckindustrie. Sie hatten es da immer relativ gut.
Aber die IG Metall macht immer in denjenigen Unternehmen am meisten Rabatz, die besonders fest zur Tarifbindung stehen. Was soll das eigentlich für ein Marketing sein? Das ist doch vollkommen kontraproduktiv: den besten und treuesten Kunden permanent vor den Kopf zu stoßen. So vertreibt man sie doch.
Nun fordern Sie von der IG Metall eine Vereinbarung: Tagesstreiks sollen nur noch nach einer Schlichtung erlaubt sein. Warum sollte die IG Metall sich darauf einlassen?
Weil es um die Akzeptanz des Tarifsystems insgesamt geht. Beide Seiten müssen ein Interesse an ausgewogenen Tarifergebnissen haben. Dafür ist Kampfparität im Arbeitskampf wichtig. Derzeit besteht ein Ungleichgewicht der Kräfte.
Das ist Ihr Interesse, aber nicht das der Gewerkschaft.
Aber wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlassen, kann die IG Metall zusehen, wie sie sich im Häuserkampf durchschlägt.
Wenn sie also versuchen müsste, Betrieb für Betrieb eine Vereinbarung zu erzwingen, egal, wie viele Mitglieder sie dort jeweils hat?
Das wäre dann die Antwort, die die Gewerkschaft bekäme. Auch wenn die Arbeitgeber das nicht anstreben. Aber wenn die Tarifvertragsparteien so weitermachen wie bisher, gehen weitere Firmen aus der Tarifbindung heraus, was ich sehr bedauern würde.
Was stört Sie denn an deren Tarifpolitik?
In der Tarifrunde 2018 forderte sie mehr Freizeit. Das zeigt uns: Eine gewisse Sättigung ist eingetreten. Alle verdienen genug, jetzt geht’s ums gute Leben. Trotzdem hat die IG Metall noch eine hohe Lohnforderung obendrauf gesetzt, sechs Prozent. Das war einfach zu viel für uns. Das hat im Mittelstand enorme Verwerfungen ausgelöst. Das Tarifsystem muss aber für kleine, mittlere und große Betriebe gleichermaßen anwendbar sein.
Das Ergebnis war, dass die Beschäftigten zwischen acht zusätzlichen freien Tagen und einem tariflichen Zusatzgeld wählen müssen.
Genau dieses Ergebnis hat dazu geführt, dass einige Mittelständler die Mitgliedschaft bei uns gekündigt haben. Das Interessante ist: Darauf hat die Gewerkschaft teilweise gesagt, dann machen wir eben zusammen einen Haustarifvertrag, ohne das tarifliche Zusatzgeld. Das ist paradox. Die Botschaft darf doch nicht lauten: Trete ich aus, kriege ich Rabatt.
Die damals vereinbarte Lohnerhöhung von 4,3 Prozent aber war okay?
Es war ein sehr, sehr hoher Abschluss, der bei uns zu Austritten geführt hat. Ich habe da wirklich Sorgen: sowohl, was die Tarifbindung der Betriebe als auch die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie betrifft. Was einmal da ist, wird ja nicht mehr zurückgefahren. Der IG Metall ist derzeit jede ihrer vermeintlichen Errungenschaften mehr wert als die Sicherung von Jobs, Standorten und Investitionen. Wenn die Abkühlung der Wirtschaft so weiterläuft, wie sie gerade begonnen hat, bin ich gespannt, ob sie wieder entgegenkommender sein wird.
Rechnen Sie mit einer solchen Abkühlung?
Ja. Unsere Industrie war noch nie so rezessionsgefährdet wie im Moment. Dazu kommen die strukturellen Dinge: Wir haben ein Demographie-Problem, und dann das große Thema Klima.
Fürchten Sie sich eigentlich davor, dass die Grünen stärkste Partei im Bund werden könnten?
Es macht keinen Sinn, wenn es so käme, als Unternehmer zu sagen: Um Gottes Willen, die Grünen, morgen geht die Welt unter. Mehr Sinn macht es zu fragen: Was wollen die? Wir sind doch diejenige Industrie, die all die Technologien entwickeln kann, die die Grünen suchen und brauchen. Weil sie damit ihre Politik umsetzen können. Also gibt es dann auch Möglichkeiten für gemeinsame Wege.
Ihre Technologien müssen halt so sein, dass der Meeresspiegel einverstanden ist.
Wir brauchen Technologieoffenheit, andernfalls geht es schief. Was meine ich damit? Wir reden über Energie aus Sonne, Wind und Wasser, über Brennstoffzellen und batterie-betriebene Autos. Wir reden aber so gut wie nicht über synthetische Brennstoffe, die aus der Umgebungsluft gewonnen werden. Da ist die Umweltbilanz wesentlich besser als beim Elektroauto, sie wäre neutral. Viele unserer Unternehmen sind damit ziemlich weit.
Was hat das mit den Grünen zu tun?
Sehr grundsätzlich jetzt: Das Leitprinzip der sozialen Marktwirtschaft ist Wettbewerb, und nicht hier eine staatliche Maßnahme und dort eine andere. Danach ist die Wirtschaftspolitik auszurichten. Anschließend muss der Staat zwingend den sozialen Ausgleich organisieren. Wenn die Grünen das Prinzip Wettbewerb aufgeben, können sie nicht unsere Freunde sein. Wenn sie ihm aber folgen, können sie gar nicht unsere Gegner sein.
Also sind Sie optimistisch?
Die Grünen stellen zugleich enorme sozialpolitische Forderungen, die mit sehr hohen Kosten verbunden sind, zum Beispiel der Wegfall von Hartz IV. Wenn Sie alles addieren, sind Sie bei einem dreistelligen Milliardenbetrag pro Jahr, zusätzlich zu den Kosten der Energiewende. Da bräuchte man eigentlich zwei Bundeshaushalte, um das zu finanzieren. Und: Schon jetzt haben wir die niedrigsten Arbeitszeiten, die höchsten Stromkosten, die höchsten Unternehmenssteuern, das rigideste Arbeitsrecht in der OECD. Wenn jetzt die Konjunktur etwas nachlässt, haben wir alle Voraussetzungen, wieder zum kranken Mann Europas zu werden.
Das Interview führten Detlef Esslinger und Marc Beise, Süddeutsche Zeitung. Erschienen am 23. Juli 2019.