Wieder zurück zum kranken Mann Europas?
Wieder zurück zum kranken Mann Europas?

Foto: Gesamtmetall-Präsident Dr. Rainer Dulger
Gesamtmetall-Präsident Dr. Rainer Dulger im Interview mit der WELT zur aktuellen Politik der Bundesregierung und der Lage der Metall- und Elektro-Industrie:
Herr Dulger, die Wachstumsprognosen für Deutschland werden derzeit immer weiter nach unten korrigiert. Wie sieht es denn in Ihrer Branche aus, die ja so etwas wie das Herzstück der Wirtschaft bildet?
Auch wir sehen eine deutliche Abkühlung. Im vergangenen Jahr sind wir noch um 1,5 Prozent gewachsen. In diesem Jahr werden wir nicht mehr als ein Prozent erreichen. Aber auch ein halbes Prozent ist denkbar. Die Gefahr einer Rezession wächst spürbar. Wir sollten sie aber auch nicht herbeireden. Krisen beginnen bekanntlich im Kopf.
Wie entwickelt sich die Beschäftigung?
Die Beschäftigungslage in der Branche ist noch stabil. Unser Problem ist der Fachkräftemangel. Wir haben über 340.000 offene Stellen für M+E-Facharbeiter, die wir nicht besetzen können, aber nur rund 120.000 sind bei der Bundesagentur für Arbeit arbeitslos gemeldet. Die Fachkräftelücke ist durch die Einführung der abschlagsfreien Rente mit 63 noch verschärft worden. Allein unsere Branche hat dadurch bereits rund 100.000 Arbeitskräfte verloren. Und die Unternehmen hatten gar keine Chance, sich darauf einzustellen, denn viele Mitarbeiter gingen sehr kurzfristig. Die Rente mit 63 hat eine verheerende Wirkung.
Rücken denn genug junge Menschen nach?
Nein, auch hier gibt es eine Lücke. Wir nehmen zurzeit in der M+E-Industrie fast 80.000 junge Menschen pro Jahr in Ausbildung, weitere 8.000 Ausbildungsplätze, immerhin zehn Prozent, konnten jedoch nicht besetzt werden. Die Zahl der Bewerber ist heute deutlich geringer als noch vor einigen Jahren. Die Unternehmen stehen im harten Wettbewerb um die Schulabgänger. Der Fachkräftemangel hat 2018 bereits zu Wachstumseinbußen geführt.
Wie passt dazu, dass etliche Konzerne wie etwa SAP oder VW massiven Stellenabbau angekündigt haben und dabei vor allem auf Altersteilzeit setzen? Frühverrentung ist doch das Gegenteil von Fachkräftesicherung.
Für die Gewerkschaften ist die Altersteilzeit ein sozialer Besitzstand, den sie auch in Zukunft nicht hergeben werden. Für die Unternehmen ist dieses Instrument aber ebenfalls unverzichtbar. Denn es bietet die Möglichkeit, Personal sozial verträglich abzubauen. Viele Mitarbeiter gehen ja nicht ungern früher in Rente, wenn man ihnen das über die Altersteilzeit finanziell ermöglicht.
Und wenn die älteren Mitarbeiter doch lieber weiterhin arbeiten wollen?
Qualifizierte Arbeitnehmer, die von einem Stellenabbau betroffen sind, haben angesichts der insgesamt stabilen Beschäftigungssituation in unserer Branche gute Chancen, in einem anderen Unternehmen einen Job zu finden.
Setzt die große Koalition die richtigen Akzente, um die Wirtschaft in Schwung zu halten?
Nein, im Gegenteil. Die Politik trägt erhebliche Mitschuld an der Konjunkturschwäche. Mit zahlreichen Maßnahmen wie der Verschärfung der Zeitarbeit oder dem neuen Teilzeitgesetz hat man den Betrieben Flexibilität genommen. Auch Regelungen etwa zur Pflege von Angehörigen oder zur Weiterbildung machen den täglichen Arbeitsablauf schwieriger. Die Politik schafft für die Beschäftigten immer neue Ansprüche und wälzt die Lasten auf die Unternehmen ab. Gleichzeitig vernachlässigt der Staat die Infrastruktur. Ob Energie, Datenübertragung oder Verkehr – überall gibt es riesige Probleme, die die Bundesregierung nicht entschlossen angeht. Union und SPD haben im vergangenen Jahr einen Schön-Wetter-Koalitionsvertrag geschlossen. Wenn die Konjunktur jetzt nicht mehr so rund läuft, zeigt sich, dass für die Wirtschaft überhaupt nichts erreicht wurde und sich die Rahmenbedingungen sogar noch weiter verschlechtern. Die Große Koalition muss endlich mehr Wirtschaft wagen!
Sind denn die Rahmenbedingungen wirklich so mies?
Nehmen Sie die Energiewende. Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat hier doch überhaupt kein Konzept. Die Stromkosten sind in Deutschland für die meisten Unternehmen mittlerweile fast doppelt so hoch wie in Nachbarländern, etwa in Polen und Tschechien. Wir hatten einmal eine der besten und sichersten Energieversorgungen der Welt. Jetzt herrscht dagegen ein heilloses Chaos. Der Netzausbau kommt nicht zügig in Gang, trotzdem wurde nach dem Atomausstieg nun auch noch ein übereilter Kohleausstieg beschlossen. Hinzu kommen die neuen unrealistischen CO2-Ziele, denen die Bundesumweltministerin in Brüssel entgegen vorherigen Absprachen zugestimmt hat. Das alles ist absurd. Der hohe Strompreis schwächt unsere Wettbewerbsfähigkeit enorm und treibt energieintensive Unternehmen ins Ausland. Und jetzt sind wir auch noch dabei, die Autoindustrie kaputtzureden. Diese grünen Träumereien müssen aufhören. Deutschland war schon mal der kranke Mann Europas, bis die Schröderschen Reformen uns wieder fit gemacht haben. Jetzt sind wir wieder auf dem besten Weg, Europas kranker Mann zu werden.
Wirtschaftsminister Altmaier hat vor Kurzem seine "Nationale Industriestrategie 2030" vorgelegt. Das Ziel ist die Schaffung nationaler und europäischer Champions, um mit China und den USA auf Augenhöhe konkurrieren zu können. Außerdem will sich der Staat aktiv an strategischen Projekten wie etwa der Batteriezellenproduktion beteiligen. Was halten Sie von einer solchen Industriepolitik?
Überhaupt nichts, denn damit landen wir nahe an der Planwirtschaft. Dass der Staat jetzt selbst eine Batteriezellenproduktion mit Subventionen anbauen will, ist der völlig falsche Ansatz. Es gibt weltweit hier längst Überkapazitäten, und China hat sich zudem den Zugang zu den nötigen Rohstoffen gesichert. Die Produktion in Deutschland kann deshalb dauerhaft gar nicht wettbewerbsfähig sein. Das ist auch der Grund, warum die Wirtschaft auf den Plan so skeptisch reagiert hat. Die Politik drängt die Automobilbranche, sich auf den Elektromotor als die Technologie der Zukunft festzulegen. Doch es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass die Zukunft nur dahin geht. Deshalb hat die deutsche Automobilbranche auch vollkommen Recht, wenn sie auch alternative Wege wie die Brennstoffzelle oder Hybridmotoren nicht vernachlässigt. In derartige strategische Entscheidungen sollte sich die Politik nicht einmischen.
Und Altmaiers Idee der nationalen Champions?
Wir brauchen keine staatlichen Hilfen für einzelne Unternehmen, sondern gute Rahmenbedingungen für die gesamte Wirtschaft. Und hier wäre für die Bundesregierung eine Menge zu tun. In Deutschland funktionieren wesentliche Teile des Gemeinwesens nicht richtig. Das gilt für die innere Sicherheit, für die Bundeswehr, für die Infrastruktur. Auch bei der Bildung müssen wir besser werden. Noch immer verlassen jährlich 50.000 Jugendliche ohne Abschluss die Schulen. Das können wir uns schon angesichts des Fachkräftemangels nicht länger leisten. Die Bundesregierung setzt falsche Prioritäten: Fast die Hälfte des Haushalts fließt in Sozialleistungen, während man kaum etwas für die Zukunftsinvestitionen aufbringt. Der Staat belastet die Unternehmen nicht nur mit Sozialkosten, sondern auch mit immer mehr Bürokratie. Die Dokumentationspflichten nehmen ständig zu. Auch hier wäre Altmaier gefordert.
Im Vergleich zu anderen EU-Staaten schlägt sich Deutschland aber doch noch ganz gut.
Mittlerweile liegen die Prognosen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland für dieses Jahr nur noch bei 0,8 Prozent. Das ist wenig. Und wenn jetzt noch aus dem internationalen Umfeld Probleme dazukommen, etwa ein harter Brexit, US-Autozölle oder ein Einbruch im China-Geschäft, dann kann sich Lage rasch dramatisch verschlechtern. Es muss nicht so kommen, doch wir täten in jedem Fall gut daran, uns besser aufzustellen. Die Regierung scheint das nicht zu erkennen. Das erinnert an die Titanic: Damals hat der Kapitän noch während des Untergangs in der ersten Klasse Tee und Kekse reichen lassen, um für gute Stimmung zu sorgen.
Das Gespräch führte Dorothea Siems, WELT. Erscheinen am 31. März 2019.