"Wir erwarten, dass die IG Metall diese Realität anerkennt und sich zurückhält"

"Wir erwarten, dass die IG Metall diese Realität anerkennt und sich zurückhält"

"Wir erwarten, dass die IG Metall diese Realität anerkennt und sich zurückhält"

Gesamtmetall-Präsident Dr. Rainer Dulger

Gesamtmetall-Präsident Dr. Rainer Dulger im WELT-Interview über den Strukturwandel in der Automobilindustrie, veraltete Arbeitszeitregeln und die Tarifrunde 2020 in der Metall- und Elektro-Industrie

Mehr als 400.000 Arbeitsplätze könnten in der Autoindustrie in Deutschland bis 2030 im Extremfall wegfallen. Zu dem Ergebnis ist zumindest eine Expertenkommission der Bundesregierung gekommen. Wie schlimm ist die Lage?
 
Ich halte gar nichts davon, den Menschen mit Konjunktiven Angst zu machen. Richtig ist, dass die Autoindustrie im Umbruch ist. Aber die deutsche Autoindustrie gäbe es nicht seit mehr als 100 Jahren, wenn sie nicht wandlungsfähig wäre. Wir müssen dafür sorgen, dass unser Standort so wettbewerbsfähig ist, dass neue Arbeitsplätze hier entstehen und nicht im Ausland. Die Automobilindustrie ist in Deutschland der wichtigste industrielle Arbeitgeber. In der Metall- und Elektro-Industrie ist unser Ausstoß um sechs Prozent zurückgegangen, in der Automobilindustrie aber sogar um mehr als zehn Prozent. Das ist nicht nur eine kleine Delle. Ich befürchte, dass die Konjunktur in den nächsten Monaten anhaltend schlecht bleiben wird. Das ist ein klarer Trend, der sich noch mit Strukturfragen mischt – nämlich nach Dekarbonisierung, Elektrifizierung und Digitalisierung. Alle sind enorm unter Druck geraten. Der Staat muss helfen, Jobs zu sichern.
 
Was soll der Staat konkret tun?
 
Er muss Strukturwandel unterstützen, nicht behindern. Und wir wollen Kurzarbeits-Regelungen erreichen, mit denen die Unternehmen je nach Auftragslage einfach und etwas länger in Kurzarbeit ein- und wieder aussteigen können. Es geht auch darum, dass die Bundesagentur für Arbeit den Arbeitgebern die Sozialkosten erstattet. Diese Instrumente gab es in der Krise 2008/2009 und jetzt, wo wir in der Rezession stecken, ist es wichtig, sie wieder in Kraft zu setzen.
 
Ein Vorwurf an die Unternehmen lautet ja, dass sie selbst zu wenig Engagement zeigen, um sich für den Strukturwandel zu rüsten.
 
Wer das erzählt, hat keine Ahnung. Jedes Unternehmen stellt an jedem Tag die Weichen neu. Wir alle prüfen ununterbrochen, ob Produkte, Produktion, Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten noch passen. Wir richten uns aber dabei nicht danach, was medial hip ist oder was in Parteiprogrammen erträumt wird, sondern danach, was unsere Kunden auch wirklich kaufen. Die Kaufentscheidung der Kunden ist die ehrlichste Stimmungslage. Deshalb darf die Politik einen Strukturwandel nicht behindern, sie muss ihn ermöglichen.
 
Was heißt das?
 
Es geht in der Autoindustrie beispielsweise um eine Entscheidung, vor der viele Leute stehen: Sollen sie ihren alten Diesel noch ein paar Jahre fahren oder schon ein neues Elektroauto kaufen? Da besteht eine große Verunsicherung. Damit sie sich für die neue Variante entscheiden und damit in den neuen Feldern Arbeitsplätze entstehen können, muss der Staat die Infrastruktur verbessern.
 
Die Bundesregierung will bis 2030 eine Million öffentliche Ladepunkte für Elektroautos. Im Moment gibt es gerade mal 24.000. Wie realistisch ist es, dass das klappt?
 
Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. Es geht doch schon los mit der Genehmigung und dem Verteilernetz. Bei neuen Immobilienprojekten wird gern verlangt, dass auch Ladestationen integriert werden. Dass dann wirklich Schnellladestationen geschaffen werden, die richtig viel Strom ziehen, ist aber oft gar nicht möglich, weil die Versorgungsleitungen nicht stark genug sind. Da muss man jetzt sehr genau schauen, welche Kapazitäten die Stationen haben und wo sie stehen.
 
Was halten Sie von Wasserstoff als Alternative?
 
Viel. Wir dürfen keinen einzelnen Antrieb favorisieren, sondern müssen diese Diskussion technologieoffen führen. Eine weitere Möglichkeit sind auch synthetische Kraftstoffe, über die in den letzten fünf Jahren eigentlich viel zu wenig gesprochen wurde, obwohl die Technologie schon recht weit ist. Der Staat darf nicht einseitig fördern, sondern muss alles fördern. Aber es geht auch darum, für die Industrie insgesamt die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
 
Nämlich?
 
Wenn wir unseren Windstrom von Nord- und Ostsee in Süddeutschland nutzen wollen, wo die verarbeitende Industrie sitzt, müssen wir Stromtrassen bauen – und zwar schnell. Wir müssen zusehen, dass die gesamte Dateninfrastruktur mit ausländischen Netzen überhaupt erst mal vergleichbar wird. Wenn ich in Ungarn oder der Slowakei eine Stunde auf der Autobahn fahre, reißt mir das Gespräch nicht ab. Bei uns hier passiert mir das aber ständig. Der Standort Deutschland muss für jedes Unternehmen die beste Wahl bleiben. Nur dann entstehen hier neue Arbeitsplätze. Aber wir haben im internationalen Vergleich richtig an Boden verloren.
 
Dabei geht es auch um die Arbeitskosten.
 
Ja, in der Metall- und Elektro-Industrie ist Deutschland nach der Schweiz und Norwegen inzwischen der teuerste Standort der ganzen Welt. Der Durchschnittsverdienst bei uns liegt bei über 58.000 Euro. Unsere Lohnstückkosten sind von Januar bis Oktober 2019 um fast acht Prozent gestiegen. Gleichzeitig sank die Produktion um vier Prozent. Das sind alles Zahlen, die wir mit Sorge sehen, denn sie bedrohen die Wettbewerbsfähigkeit – und damit auch die Exportfähigkeit unserer Industrie. Und das ist ja nicht die einzige Belastung. Hinzu kommen noch deutlich ungünstigere Bedingungen bei Steuern, Sozialabgaben und Flexibilität des Arbeitsmarkts.
 
Damit spielen auch auf die Arbeitszeitregeln an. Was fordern Sie konkret?
 
Anstelle einer werktäglichen sollte eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden festgelegt werden. So kann rechtssicher an einem Tag länger und an einem anderen kürzer gearbeitet werden. So lautet die entsprechende EU-Richtlinie, und so funktioniert es in anderen Ländern problemlos. Die bisherige elfstündige Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen sollte man einteilen in zwei Blöcke – in acht Stunden ununterbrochene Ruhe und drei Stunden, die man sich frei einteilen kann.
 
Was heißt "frei einteilen"?
 
Man muss nicht elf Stunden am Stück Ruhe einhalten, sondern kann sie über den Tag verteilen. Also acht Stunden Ruhe am Stück bleiben Pflicht, und die anderen drei Stunden kann man aber zum Beispiel schon am Nachmittag nehmen und später nochmal weiterarbeiten. Diese Veränderungen sollten ausnahmslos für alle Arbeitnehmer gelten.
 
Gewerkschafter fürchten bei Aufweichungen gesundheitliche Schäden für die Betroffenen. Wie realistisch ist eine gemeinsame Lösung?
 
Wir hinken den anderen europäischen Ländern in dieser Frage hinterher. Es ist an der Zeit, dass die Gewerkschaften das auch mal erkennen. Wer in internationalem Umfeld arbeitet, muss aufgrund der Zeitverschiebung auch mal um 22.30 Uhr eine E-Mail beantworten können, ohne am nächsten Morgen bis 9.30 Uhr warten zu müssen, den Laptop wieder aufklappen zu dürfen. Da geht es nicht nur um die Sorge der Arbeitgeber, wettbewerbsfähig zu sein. Auch viele Arbeitnehmer stellen ausdrücklich den Anspruch, die Arbeit flexibler organisieren zu können. Nur zu sagen: Beschäftigte sind unmündig, die können das nicht allein – das ist eine Geisteshaltung, mit der man auch an den Gewerkschaftsmitgliedern vorbeigeht.
 
Ihr Verhältnis zur IG Metall war zuletzt sehr angespannt. Was erwarten sie für die bevorstehende Tarifrunde in der Metall- und Elektro-Industrie?
 
Wenn es die IG Metall ernst meint mit der Sorge um die Arbeitsplätze in der Industrie, dann muss sich das in ihren Forderungen für diese Tarifrunde widerspiegeln. Staat und Unternehmen können viel für die Wettbewerbsfähigkeit tun, aber eine große Rolle spielen auch die Tarifbedingungen der Gewerkschaften. Die fetten Jahre sind vorbei, und wir erwarten, dass die IG Metall diese Realität anerkennt und sich zurückhält. Auch sie hat eine Verantwortung für die Beschäftigungssicherung in unserer Industrie.
 
Was sind für Sie die roten Linien?
 
Es ist noch zu früh, über mögliche Überforderungen zu spekulieren. Die Gewerkschaft wird Ende Februar über ihre Forderungen beschließen, und das wollen wir abwarten. Im Moment läuft der Dialog ganz fruchtbar. Wir haben die Hoffnung, dass wir in Zukunft wieder mehr gemeinsam regeln können. Ein Stück weit ist ja auch nachvollziehbar, dass die Gewerkschaft die gute Lage der letzten Jahre genutzt hat, um mit ihren Forderungen ans Maximum zu gehen. Aber es war einfach ein Kampflied zu viel, das da gesungen wurde.
 
Besonders hatten die Unternehmen nach der letzten Tarifrunde ja über die neue Urlaub-Geld-Wahl geklagt. Ein Teil der Beschäftigten bekam die Möglichkeit, zwischen einer Sonderzahlung und acht zusätzlichen freien Tagen wählen zu können. Ist eine Ausweitung auf mehr Beschäftigte ausgeschlossen?
 
In vielen Unternehmen läuft es gerade schlecht, da müssen wir die Arbeitsbedingungen so anpassen, dass möglichst viele Menschen in Arbeit bleiben und die Unternehmen das auch überleben. Das erreichen wir nicht, wenn alle in Urlaub gehen und weiter Geld beziehen. Das kann es nicht sein.
 
Sie wollen, dass Tarifverträge insgesamt flexibler werden und Unternehmen zwischen einzelnen Elementen wählen können. Wie wollen Sie davon überzeugen, dass das nicht in einer Abwärtsspirale endet?
 
Das ist doch längst Alltag, in jedem Haustarifvertrag passiert das so, mit dem Segen der Gewerkschaft. Die größte Gefahr ist doch, dass sich ohnehin immer mehr Unternehmen gegen jegliche Tarifbindung entscheiden. Da ist es doch besser zu sagen: Wir springen über unseren Schatten, und jeder, der von den 25 Modulen, die unser Tarifwerk bietet, zehn anwendet, gilt als tarifgebunden. Viele kleine und mittlere Unternehmen sind mit dem riesigen Tarifwerk einfach überfordert. Sie verstehen es zum Teil nicht richtig und können es nicht richtig anwenden, weil es zu komplex geworden ist. Wenn wir das nicht ändern, sieht es mit der Tarifbindung gerade für kleinere Betriebe sehr schlecht aus.
 
Das Interview führte Christine Haas, WELT. Erschienen am 15. Januar 2020.