Frisch für alle… FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Cherry-Romatomaten Spanien, Marokko, Kl. I, je 250-g-Schale (100 g = 0.28) 0.69 0.99 EU erleichtert Krisenhilfe an Unternehmen F r i s c h e C h e c k wmu. BRÜSSEL. Die EU will staat- liche Hilfen für Unternehmen erleichtern, die unter dem Krieg in der Ukraine leiden. Deshalb hat die EU-Kommission am Donnerstag angekündigt, sie wolle baldmöglichst ein neues befristetes Regelwerk („temporary framework“) in Kraft setzen, das die Hürden für Subventio- nen der Mitgliedstaaten an solche Unternehmen spürbar senkt. Einen ähnlichen, bis heute gelten- den Rahmen hatte die EU 2020 ein- geführt, um die ökonomischen Fol- gen der Corona-Pandemie abzufe- dern. Er ermöglichte in Deutschland zahlreiche Hilfen an durch die Pan- demie in Not geratene Unterneh- men. Grundsätzlich erlaubt das EU- Beihilfenrecht solche Subventionen nur, wenn sie nicht den Wettbewerb im Binnenmarkt verfälschen. vorübergehende Nach dem Vorbild der Corona- Ausnahmen will die Kommission nun staatliche Liquiditätshilfen an alle Unterneh- men zulassen, „die von der gegen- wärtigen Krise betroffen sind“. Wett- bewerbskommissarin Margrethe Ves- tager sagte, die EU-Wirtschaft werde „jetzt und in den kommenden Mona- ten“ unter der russischen Aggression in der Ukraine leiden. Speziell erlau- ben will ihre Behörde alle Staatshil- fen, die Unternehmen als Ausgleich für die aktuell besonders hohen Gas- und Strompreise erhalten. Davon könnten alle Unternehmen profitieren, besonders aber die ener- gieintensiven. Der Kreis der Empfän- ger solcher temporären Hilfen soll möglichst weit gefasst werden. Die Unternehmen müssen lediglich gel- tend machen, dass der Ukrainekrieg sie in akute Liquiditätsschwierigkei- ten bringt. Ausschließen will die Kommission nur jene Unternehmen, die von Russland kontrolliert oder von EU-Sanktionen betroffen sind. Die Lockerung der Beihilferegeln gilt als eine der wenigen Erleichterungen für europäische Unternehmen, die in der EU als Reaktion auf den Ukrai- nekrieg nicht umstritten sind. Macron: Erst mit 65 in Rente andere Verbrauchssteuern auf Energie, darunter die Mehrwertsteuer, sind zumindest zeitweilig zu senken. Gerät nicht irgendwann der Staat an Grenzen seiner Leistungsfähigkeit? Natürlich gibt es solche Grenzen, die man immer im Blick behalten muss. Aber das darf uns ja nicht daran hindern, die poli- tischen Prioritäten richtig zu setzen, und zwar so, dass die Industrie als stärkster Motor unseres Wohlstands auch in Zukunft gut läuft. Umso wichtiger wäre, dass die Regierung in Berlin und die EU- Politiker in Brüssel endlich verstehen: Auch die Leistungsfähigkeit unserer Unternehmen ist nicht grenzenlos. Haben Sie denn Zweifel, dass es dieses Verständnis gibt? Allerdings. Welchen Eindruck soll man denn sonst haben angesichts der Pläne für immer neue Belastungen unserer Unternehmen? Es wirkt in vielen Poli- tikbereichen so, als hätte man dort die neue Weltlage noch gar nicht mitbekom- neue Weltlage noch gar nicht mitbekom- men: Der Mindestlohn wird außerplan- men: Der Mindestlohn ird außerplan- mäßig auf 12 Euro erhöht, als sei nichts passiert. Sozialleistungen und -abgaben sollen steigen, als sei nichts passiert. Die EU macht mit ihrer sogenannten Liefer- kettenrichtlinie weiter, als sei nichts pas- siert. Und dann will sie uns auch noch ein ganz neues bürokratisches Riesen- monster namens „Sozial-Taxonomie“ schicken. Ich gehe da jetzt gar nicht ins Detail und sage nur: Politiker, die uns ausgerechnet jetzt zwingen wollen, noch mehr Soziallasten zu schultern und noch mehr Personal zum Ausfüllen von For- mularen statt für Produktinnovationen einzusetzen – die sollen uns bitte nichts über Grenzen staatlicher Leistungsfähig- keit erzählen. Trotzdem müssen Mehrausgaben für Kurzarbeit und Steuersenkungen irgend- wie finanziert werden. Woher sollen die Mittel denn kommen? Ich kann Ihnen sagen, woher seit jeher ein besonders großer Teil der Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben kommt: aus der Wertschöpfung in den Unternehmen unserer Industrie. Deshalb ist es ja so wich- tig, anstelle immer neuer Regulierungen endlich die Rahmenbedingungen für unse- re Arbeit konsequent darauf auszurichten, dass eine neue wirtschaftliche Dynamik entsteht. Denn ohne Industrie kein Wohl- stand! Ich erwarte von der Regierung, dass sie es den Unternehmen in dieser Situation leichter und nicht immer schwerer macht, mit innovativen, wettbewerbsfähigen Pro- dukten auf den Weltmärkten erfolgreich zu sein. Das führt am Ende auch dazu, dass der Staat höhere Einnahmen und Leis- tungsfähigkeit gewinnt. Wenn wichtige Lieferketten in Zukunft stärker abgesichert werden sollen, heißt das ja, dass – zum Beispiel – wieder mehr Kabelbäume in Deutschland produziert werden. Könnte auch das hierzulande zu mehr Wirtschaftswachstum führen? Das ist theoretisch denkbar. Allerdings ist das natürlich auch eine Kostenfrage: Wer- den Kabelbäume oder andere Zulieferer- teile nicht mehr mit ukrainischen, son- dern mit deutschen Lohn- und Produk- tionskosten hergestellt, dann werden die Autohersteller nicht einfach sagen kön- nen: Wir zahlen trotzdem weiter den alten Preis für den Kabelbaum. Das gesamte Produkt wird dann teurer. Der Unternehmer Stefan Wolf, 60, erscheint zum Gespräch in der Uracher Altstadt mit Jeans und offenem Hemd. Der Grüne Cem Özdemir, 55, bevorzugt Anzug und Krawatte. Foto Verena Müller Und dann schrumpft die Absatzmenge. Ist das Produkt gut genug, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein, dann kann die Rechnung aufgehen. Bei alle- dem ist mir aber eines auch sehr wichtig: Ich will trotz der gerade so schlimmen Lage in der Ukraine noch nicht die Hoff- nung aufgeben, dass dort irgendwie eine Rückkehr zu friedlichen Verhältnissen gelingen könnte. Auch wenn es derzeit so wenig danach aussieht: Am liebsten wäre mir, wir könnten schon bald am Cem Özdemir: wirtschaftlichen Wiederaufbau der „Die Freiheit Ukraine mitwirken. gefährden wir dann, wenn die Klimakrise ren, mit dem Bundeskanzler als CEO und den Ministern als Abteilungslei- tern? Redet man dagegen ständig über eine höhere Einkommensteuer, gehen qualifizierte Leute lieber ins Ausland. Und wenn es auch noch eine rot-rot- grüne Bundesregierung gibt, dann gute Nacht! Özdemir: Die Linkspartei hat sich durch ihre Ablehnung des Evakuie- rungseinsatzes in Afghanistan selbst ins Abseits befördert. Ich sehe nicht, dass diese Partei außenpolitisch regierungs- fähig wäre, solange sie sich so verhält. Und wie hoch war der Steuersatz unter Helmut Kohl, bevor die Grünen in die weitergeht.“ Das Gespräch führte Dietrich Creutzburg. steigen. Die Autokonzerne mögen schwerfällige Tanker sein, das verstehe ich auch, weil sie immer auch an Aktio- närinnen und Aktionäre sowie an Mit- arbeitende denken müssen. Aber wenn dieser Tanker mal die Richtung ändert, dann geht das schneller, als man denkt. Die EU-Kommission fordert den Aus- stieg übrigens ab 2035 für die ganze EU, also auch für Länder, die in Sachen E-Mobilität und Modernisierung sogar noch einiges mehr zu tun haben als wir. Wolf: Im Grünen-Programm steht aber 2030! Özdemir: Und das ist richtig so. Über 50 Prozent des Exports von deutschen Autos geht in Absatzmärkte, die den Ausstieg aus dem fossilen Verbrenner beschlossen oder zumindest geplant haben. Noch mal: Ich vertraue der Leis- tungsfähigkeit unserer Wirtschaft, wenn sie einmal auf dem richtigen Pfad ist. Am Ende wird es schneller gehen, als wir denken. Mit dem richtigen politi- schen Rahmen. Wolf: In unserer Branche ist der Wan- del angekommen. Aber in Deutschland aus dem Verbrennungsmotor auszustei- gen und dafür in China neue Fabriken zu bauen, das ergäbe keinen Sinn. Özdemir: Das ist doch Unsinn! China investiert massiv in die Elektromobilität, nächstes Jahr geht ein chinesischer Her- steller auf den europäischen Markt. Die Weltmärkte ändern sich. Wolf: Das ist für uns ein Geschäft, klar. Nur wenn wir die neuen Technologien global vermarkten können, werden wir die deutsche Autoindustrie auf diesem Niveau erhalten können. Özdemir: Schon als Parteivorsitzender habe ich den Geschäftsführer des Che- mieverbandes eingeladen, er sagte mir: Dass wir als deutsche Chemieindustrie auf vielen Märkten als Erste mit neuen Produkten präsent waren, das verdanken wir auch den Grünen. Ihr habt genervt und die Standards verschärft, das bringt uns heute Vorteile. Wolf: Und ohne den Dieselskandal wäre die Autoindustrie nicht an dem Punkt, an dem sie heute ist. Özdemir: Das war ein heilsamer Schock? Wolf: Absolut. Özdemir: Als Schwabe hätte man das Geld auch anders verwenden können! Wolf: Klar. Aber es hatte schon einen Beschleunigungseffekt. Bundesregierung eingetreten sind? In den vielen Bundesländern, in denen wir regieren, hat deswegen noch kein einzi- ges Unternehmen das Land verlassen. Im Gegenteil: Dort geht es der Wirt- schaft gut. Was aber nicht geht, ist die esoterische Politik anderer Parteien: Infrastruktur sanieren, Steuern senken, soziale Gerechtigkeit, mehr für Ent- wicklungshilfe und Verteidigung – da frage ich mich, in welcher Schule sie das Rechnen gelernt haben. Das frage ich mich übrigens auch bei einigen Bundesministern, Stichwort Maut-De- bakel oder Cum-Ex-Skandal. Da könn- te man sparen! F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TAG S Z E I T U N G , 1 2 . S E P T E M B E R 2 0 2 1 , N R . 3 6 21 „Ich sage meine Meinung“ Verbandschef und Unternehmer Stefan Wolf hält nicht viel von Diplomatie Foto Verena Müller D ie meisten Manager in der Bran- che der Autozulieferer sind schon froh, wenn sie in diesen Zeiten ih- ren Betrieb einigermaßen auf Kurs halten können. Der Wechsel in der Antriebstechnik stellt viele dieser mittelständischen Firmen vor große, manche sogar vor existenzielle Probleme. Auch die Elring-Klinger AG, die Leider greift das in dreierlei Hinsicht zu Stefan Wolf seit 2006 als Vorsitzender des kurz. Erstens: Die Unternehmen brau- Vorstands führt, hat lange unter den Umwäl- chen damit jetzt eine Perspektive, die zungen gelitten, die mit dem Siegeszug des zumindest bis Jahresende 2022 reicht, Elektroautos verbunden sind. denn bis Juni werden die neuen Probleme Doch Wolf selbst, der einst als Syndi- kaum ausgestanden sein. Zweitens: Die Unternehmen brauchen weiter die voll- kusanwalt bei dem schwäbischen Zulieferer ständige Entlastung von Sozialversiche- mit inzwischen 10 000 Mitarbeitern begann, rungsbeiträgen auf das Kurzarbeitergeld. gehört nicht in diese Kategorie der Zauderer Und drittens: Es muss auch Zeitarbeitern und Sorgenbeladenen. Er hat trotz des auf- der Zugang zu Kurzarbeit offen bleiben – reibenden CEO-Jobs noch genug Energie was jetzt in der Industrie eine viel größe- übrig, um als neuer Präsident des Verbandes re Rolle spielt als etwa im Gastgewerbe, Gesamtmetall in Berlin politische Kämpfe das zuvor von der Corona-Krise beson- ders betroffen war. Mit dem bisherigen auszutragen. Entwurf würden alle diese Punkte nicht Dass Wolf weder Konflikte noch Be- verlängert. Schon im Februar hatten dies schimpfungen scheut und auch keinem viele Fachleute kritisiert, und das war Shitstorm aus dem Weg geht, haben bereits noch vor dem Krieg in der Ukraine. die ersten Monate seiner Amtszeit gezeigt. Mal rechnete der 59-jährige Unternehmer Die Politik soll auch für Entlastung von in der „Bild“-Zeitung mit dem „Versagen“ hohen Energiekosten sorgen. Sie haben dazu gemeinsam mit der IG Metall kürz- der Bundesregierung in der Coronapolitik lich einen Aufruf verfasst . . . ab, mal verlangte er von den Beschäftigten In der Tat, das ist die andere Aufgabe, nach der Pandemie erneut eine Nullrunde. die jetzt ganz wichtig ist. Denn wir lau- Große Schlagzeilen produzierte der Mana- fen da auf eine sehr, sehr schwierige ger mit Dreitagebart und Einstecktuch statt Situation zu: Die Leute zahlen beim Krawatte auch bei einem besonders sensi- Tanken mehr als 2 Euro für den Liter blen Thema – der Rente. Mit Blick auf die Benzin, die Heizkosten schießen durch die Decke, und das alles sind Belastun- schwierige Lage der gesetzlichen Alterssi- gen, denen sie ja nicht einfach auswei- cherung forderte Wolf ein Renteneintrittsal- cherung forderte Wolf ein Renteneintrittsal- chen können. ter von 70 Jahren – was Bundesarbeitsmi- ter von 70 Jahren – was Bundesarbeitsmi- nister Hubertus Heil (SPD) prompt als Entsprechend höher werden die Erwar- „zynisch“ ablehnte. „zynisch“ ablehnte. tungen in den kommenden Lohnrunden sein, dass die Tarifpolitik für einen Aus- gleich der Teuerung sorgt. Mit Recht? Immer auf die Tonne Immer auf die Tonne Bis zu unserer nächsten Tarifrunde in der Überhaupt: Die SPD und Wolf, das wird Überhaupt: Die SPD und Wolf, das wird Metall- und Elektroindustrie ist es noch wohl keine Liebe mehr. So gab er jüngst erst wohl keine Liebe mehr. So gab er jüngst erst einige Monate hin, da will ich jetzt nicht offen zu Protokoll, kein Vertrauen in den so- offen zu Protokoll, kein Vertrauen in den so- vorgreifen. Aber nach Lage der Dinge zialdemokratischen Kanzlerkandidaten zu bekommen wir es mit einem ernsten Ziel- haben: „Ich glaube nicht, dass Olaf Scholz konflikt zu tun. Denn die hohen Energie- das Zeug zum Kanzler hat, da gehört schon das Zeug zum Kanzler hat, da gehört schon preise treffen ja auch die Unternehmen. ein bisschen mehr dazu, als eine Palette von ein bisschen mehr dazu, als eine Palette von Nicht zu vergessen: Schon zuvor waren infolge der Pandemie die Materialpreise Sozialthemen zu präsentieren“ (siehe WiWo Sozialthemen zu präsentieren“ (siehe WiWo stark gestiegen. 35/2021). Für einen Interessenvertreter, der 35/2021). Für einen Interessenvertreter, der sich schon bald in Gesprächen mit einer Re- sich schon bald in Gesprächen mit einer Re- Was also tun? gierung wiederfinden könnte, der die SPD Umso mehr kommt es darauf an, dass die angehört, war das schon furchtlos offen. angehört, war das schon furchtlos offen. Politik alle Möglichkeiten ergreift, den Die Herausforderung der nächsten Jah- Die Herausforderung der nächsten Jah- Anstieg der Energiekosten mit ihren Mit- re, legte er nach, sei eben nicht ein höherer re, legte er nach, sei eben nicht ein höherer teln zu dämpfen. Das heißt: Die Erneuer- bare-Energien-Umlage gehört schnellst- Mindestlohn, sondern der Strukturwandel möglich abgeschafft, die Stromsteuer muss auf das europarechtlich vorgegebe- ne Minimum gesenkt werden. Und auch Heavy Metall Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf fordert schon mal Nullrunden wegen Corona oder die Rente mit 70. Olaf Scholz spricht er offen die Befähigung zum Kanzler ab, Armin Laschet hingegen lobt er. Eine Annäherung an Deutschlands unerschrockensten Lobbyisten. TEXT DANIEL GOFFART niza. PARIS. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will im Fall sei- ner Wiederwahl das Renteneintritts- alter von 62 auf 65 Jahre erhöhen. Einen entsprechenden Bericht der Zeitung „Les Échos“ bestätigte ein Regierungssprecher am Donnerstag. Dieser nannte es „prioritär“, dass die Franzosen länger arbeiten, um Steuererhöhungen zu vermeiden. Die Reform würde sich dem Bericht zufolge über neun Jahre erstrecken, also über eine zweite fünfjährige Amtszeit Macrons hinaus. Mit jeder Beitragsgeneration soll der ab - schlags freie Renteneintritt demnach um vier Monate nach hinten verscho- ben werden. Zugleich soll an die Stel- le des bestehenden komplizierten Systems mit mehr als 40 Pensions- kassen ein universelles verständli- cheres System treten. Sonderrege- lungen für die Beschäftigten in Staatsbetrieben wie dem Energiever- sorger EDF sollen abgeschafft wer- den. Sozialverträglich abfedern soll die Reform eine monatliche Mindest- rente von 1100 Euro, wie der Regie- rungssprecher weiter sagte. An der Reform des französischen Rentensystems hatte sich Macron in seiner im April endenden Amtszeit die Zähne ausgebissen. Das Vorha- ben, die verschiedenen Pensionskas- sen zu ordnen und den Renteneintritt zu erhöhen, hatte vor Ausbruch der Corona-Pandemie Zehntausende auf die Straße gebracht. Im vergangenen November hatte Macron die Reform dann endgültig abgeblasen und sie für seine mögliche zweite Amtszeit in Aussicht gestellt. Bislang war aber immer von einem Renteneintritt mit 64 Jahren die Rede. Dass Macron nun 65 Jahre anvisiert, hat dem Ver- nehmen nach finanzielle Gründe: Die jährlichen Kosten des Renten- systems belaufen sich mittlerweile auf knapp 330 Milliarden Euro im Jahr, das sind 13,5 Prozent des Brut- toinlandsprodukts. Zum Vergleich: In Deutschland sind es rund 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf sieht die Zukunft der Weltwirtschaft im Kern zuversichtlich. Vielen Politikern wirft er aber vor, die Veränderung der Weltlage noch nicht mitbekommen zu haben. Herr Wolf, die offene, fast grenzenlose Weltwirtschaft ist eine Erfolgsgrundlage der deutschen Industrie. Was folgt aus der Konfrontation mit Russland und der neuen Weltlage – erleben wir womöglich gerade das Ende der Globalisierung? Auch wenn in diesen Zeiten vieles nicht mehr unumstößlich erscheint: Das kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich führt der furchtbare Krieg in der Ukraine, neben allem menschlichen Leid, auch wirtschaftlich zu heftigen Verwerfungen. Da sind die drastisch steigenden Energie- preise, und es sind Lieferketten gestört durch Produktionsausfälle in der Ukraine. Aber ich sehe nicht, warum dies auf das Ende einer im Grundsatz offenen, ver- netzten Weltwirtschaft zulaufen sollte. Teure Energie verteuert Transporte, das trifft den ganzen Welthandel. Und wir erleben die veränderte Rolle Chinas in diesem Konflikt. Was, wenn die Welt wie im kalten Krieg in Blöcke zerfällt? Bei allen Risiken, ich bin da nicht so pes- simistisch. Man sollte die Kraft des Öko- nomischen nicht unterschätzen. Denn was hat die Globalisierung in den vergan- genen 20, 25 Jahren bewirkt? Sie hat so vielen armen Ländern und den Men- schen dort einen Zugang zu steigendem Wohlstand verschafft. Es kann doch nie- mand ernsthaft anstreben, dass das alles wieder zurückgedreht wird. Ich bleibe auf jeden Fall ein entschiedener Befürworter der Globalisierung. ● Aber auch hierzulande häufen sich Rufe nach einer Rückverlagerung von Produk- tion, nach mehr Autarkie. Richtig ist, dass wir bei Investitions- und Standortentscheidungen künftig deutlich stärker auf Liefersicherheit und politische Risiken achten müssen. Das haben schon die Folgen der Corona-Pandemie gezeigt – Stichwort: Chipmangel in der Autoindus - trie. Und jetzt erleben wir ja gerade, was passiert, wenn plötzlich die Produktion von Kabelbäumen in der Ukraine ausfällt: Wieder stehen in der Autoindustrie die 20 WIRTSCHAFT Bänder still. Tatsächlich wurde in der Ver- gangenheit manche Auslandsinvestition etwas zu einseitig an Kriterien wie niedri- gen Lohnkosten und Steuern ausgerichtet. Das wird sich ändern müssen. Also doch weg von der Globalisierung? Nein, das heißt es nicht. Unsere Unter- nehmen haben ja auch nicht allein des- halb in Produktionsstätten im Ausland investiert, um damit hohen Lohn- und Produktionskosten im Inland auszuwei- chen. Es ging immer auch darum, neue Märkte zu erschließen, auf denen unsere Unternehmen als bloße Exporteure nur schwer Fuß gefasst hätten. Solange es Länder gibt, in denen sich dieser Ansatz zum beiderseitigen Vorteil nutzen lässt, wird es dieses Bestreben immer geben. Und indirekt tragen diese Investitionen immer auch dazu bei, Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Deshalb: Ja, wir müssen Lieferketten sicherer machen, zum Beispiel Bezugs- quellen stärker diversifizieren. Aber eine Abkehr von internationaler Arbeitstei- lung wäre völlig falsch. nicht da ist, brauchen wir Institutionen, die einspringen. Dazu gehört aber auch, dass man die Eltern überzeugt. Ich kannte zum Beispiel mal eine sehr begabte Nachbarstochter, da sagte der Vater: Was muss die studieren? Die soll was schaffen! Özdemir: Der Anspruch muss sein, dass wir niemanden verlieren. Es braucht zum Beispiel eine Ganztagsschule, auch mit einem gesunden Mittagessen. Für mich bestand das jahrelang darin, dass ich bei dem Imbiss dort drüben eine Portion Pommes gegessen habe oder zur Abwechslung eine Rote Wurst. Weil die Eltern in der Fabrik waren – und ich damals noch nicht Vegetarier war. Herr Özdemir, Herr Wolf, was bedeu- tet Ihnen Ihre Heimatstadt Urach? Cem Özdemir: Meine Eltern, die beide aus der Türkei kamen, haben sich hier kennen- und lieben gelernt. Ich verdan- ke Urach also meine Existenz, bin hier geboren und aufgewachsen. Schauen Sie: In dieser Straße dort befindet sich das elterliche Haus, inzwischen sind bei- de gestorben – meine Mutter erst vor wenigen Wochen. Früher bin ich hier- hergekommen, um meine Eltern zu besuchen, jetzt gehe ich auf den Fried- hof. Aber ich habe hier immer noch gute Freunde – und verbinde tolle Erinne- rungen mit Urach. Stefan Wolf: Ich wohne seit 2018 hier, habe es nah zur Firma. Urach ist für mich ein Stück Heimat geworden, ein liebens- und lebenswertes Städtchen. In der Auseinandersetzung mit Russland gibt es nun auch in Deutschland Rufe nach einem vollständigen Gas- und Ölboykott. Wie stehen Sie dazu? Hier müssen wir realistisch sein. Wenn Deutschland sich dazu entschließen sollte, Herr Özdemir, Sie sind als Kind von Einwanderern aufgewachsen; Herr Wolf, Sie leben mit einem Mann zusammen. Hatten Sie jemals das Gefühl, es geht hier geistig eng zu? Wolf: Nein. Das mag vor 25 Jahren anders gewesen sein, aber heute ist es nicht mehr so. Die Leute hier haben das Herz auf dem richtigen Fleck. Bei uns in der Firma haben wir 18 oder 20 ver- schiedene Nationalitäten, das ist über- haupt kein Thema. Auch ich persönlich verspüre keinerlei Ablehnung, das ist absolute Normalität. Özdemir: Das ist wahrscheinlich wie anderswo auch: Es hat sich was verändert. Früher haben Leute schon die Nase gerümpft, wenn eine junge Mutter berufs- tätig war. Heute ist das zum Glück hier der Normalfall. Da hat sich in ganz Deutschland etwas gedreht, das wurde erarbeitet und von vielen mutigen Men- schen hart erkämpft. Ich bin 1994 als ers- ter anatolischer Schwabe in den Bundes- Steuerpflichtig in Afghanistan Was ist das Besondere am Schwäbi- schen? Özdemir: Als Jugendlicher wollte ich so schnell wie möglich weg. Was meine Mutter als Vorteil beschrieb, empfand ich als Nachteil: Man kennt sich, man weiß fast alles voneinander. Je älter ich werde, desto mehr kommt die Altersmil- de. Inzwischen verstehe ich, warum mei- ne Mutter nie nach Berlin ziehen wollte. Wenn sie hier einen runden Geburtstag hatte, dann stand das in der Lokalzei- tung, und der Bürgermeister gratulierte ihr persönlich. Sie sagte: In Berlin stirbst du anonym in der Wohnung, niemand bekommt es mit, das passiert dir in Urach nicht. Im Nachhinein denke ich: Wahrscheinlich hatte sie recht. Wolf: Ich seh’s auch aus der Perspektive der Firma. Wir haben hier tolle und leis- tungsfähige Mitarbeiter. Außerdem ist das eine unglaublich innovative Gegend, mit vielen jungen Ingenieuren, die fürs Studium mal weggehen, dann aber wie- der zurückkommen. Diese Verlässlich- keit und Klarheit, das Bekenntnis zu der Region, das ist etwas Besonderes. Özdemir: Wir haben übrigens noch eine weitere Gemeinsamkeit. Mein Kind- heitsfreund Olcay Zeybek hat seine Aus- bildung bei Elring-Klinger gemacht, heute ist er dein Chefbuchhalter und sitzt bei dir im Aufsichtsrat. Er ist genauso Gastarbeiterkind wie ich, früher waren wir einmal pro Woche bei seiner Familie zum Baden, weil wir keine eige- ne Wanne hatten. Er bekam als Einziger von uns Gastarbeiterkindern eine Emp- fehlung fürs Gymnasium, konnte aber zunächst nicht das Abitur machen. Er hat das dann auf dem zweiten Bildungs- weg nachgeholt, studiert – und eine Kar- riere im Unternehmen gemacht. Das ist für mich ein Beispiel, welche Potentiale wir in unserem Bildungssystem noch heben können. Wolf: Er ist ein Beispiel dafür, dass es geht! Özdemir: Aber wie viele Fälle haben wir, die es aus der Kurve haut? Wolf: Das stimmt, leider. Özdemir: Und was entgeht uns da menschlich, aber auch ganz nüchtern volkswirtschaftlich – an Erfindergeist, an Leuten, die Innovationen hervorbrin- gen? Wir brauchen ein Bildungssystem, in dem der Erfolg von den Eltern abge- koppelt wird. Wolf: Das soziale Gefüge, in dem man aufwächst, bestimmt immer noch zu stark den Lebensweg. Ich wäre ohne die Unterstützung von zu Hause heute nicht dort, wo ich bin. Mein Vater war Chef- redakteur des Schwarzwälder Boten, ich bin in einem akademischen Elternhaus aufgewachsen. Wenn diese Prägung für die tag eingezogen – und mit mir Volker Beck als erster Abgeordneter, der sich offen zu seinem Schwulsein bekannte. Wer hätte damals gedacht, dass das inzwischen auch in fast allen anderen Parteien selbstver- ständlich ist? Entscheidend sollte nicht sein, wo man herkommt, sondern wo man hinwill. Da sind wir aber noch nicht am Ziel, da müssen wir auch noch eine Stre- cke gehen. gel. BERLIN. Ein deutscher Zivi- keinen Blick für die Bedürfnisse der list, der Internationale Wirtschaft.“ Schutztruppe ISAF in Afghanistan tätig war, muss in Deutschland Ein- kommensteuer zahlen. Aus völker- rechtlichen Abkommen ergebe sich kein Anspruch auf Steuerbefreiung, entschied der Bundesfinanzhof (BFH) in einem am Donnerstag bekannt gegebenen Urteil von Oktober 2021. Der Kläger, ein ehe- maliger Bundeswehrsoldat, war von 2012 bis 2013 als Berater bei der ISAF in Afghanistan tätig. Sein Gehalt zahlte die NATO. Der Kläger war der Auffassung, aufgrund von Regelungen internationalen Abkommen müsse er in Deutsch- land keine Einkommensteuer für seine Beratertätigkeit in Afghanis- tan zahlen. Dem widersprach der BFH. Die steuerrechtlichen Vor- schriften der einschlägigen völker- rechtlichen Abkommen erfassten die Tätigkeit des Klägers aus unter- schiedlichen Gründen nicht. Trotzdem ging der Trend zuletzt dahin, dass junge Leute unbedingt in die Großstadt wollten. Firmen auf dem Land taten sich mit Fachkräften schwer. Spüren Sie das, Herr Wolf? Wolf: Nicht so sehr. Unsere neuen Berei- che Brennstoffzellen und Batterietechno- logie sind für junge Leute extrem span- nend. Wir haben erst letztes Jahr unser Joint Venture mit Airbus abgeschlossen, da mussten auch Leute aus Hamburg umziehen. Sie haben das gemacht, weil sie am ersten Passagierflugzeug mitarbeiten wollten, das mit Wasserstoff fliegt und 2035 den Linienbetrieb aufnehmen soll. Ein Vorteil ist sicherlich auch die Nähe zu Stuttgart. In unserem Werk in Heiden- heim tun wir uns schwerer. Özdemir: Das Problem hat ja nicht die Autoindustrie! Sondern Firmen, die Stefan Wolf: „Frau Ba erbock hat ebenfalls gute Leute suchen und nicht mit den Löhnen konkurrieren können, die bei euch oder bei den großen Firmen im Stuttgarter Raum bezahlt werden. Ein Hebel, um die Attraktivität zu erhö- hen, ist die Verkehrsanbindung. In mei- ner Jugend wurde die Bahn nach Urach stillgelegt. Inzwischen fährt sie wieder, und im Moment wird sie ausgebaut und elektrifiziert. Wolf: Ich bin über den Bahnanschluss auch sehr froh. Wir haben eine eigene Haltestelle direkt an der Firma. Wenn morgens um acht der Zug hält, strömen wahre Menschenmassen zum Werkstor. Vor allem für die Mitarbeiter aus der Stuttgarter Gegend ist das eine Alterna- tive zum Stau. Özdemir: Wir sollten auch den Güter- verkehr nicht vergessen. Ihr habt ja noch einen Gleisanschluss, aber bei vielen Gewerbegebieten ist das leider nicht mehr der Fall. Wolf: Dafür müsste die Bahn aber erst mal zuverlässiger werden! Sonst bekom- men wir den totalen Verkehrskollaps. Neulich bin ich mit dem Auto von hier bis ins Münsterland gefahren: Es war wieder unglaublich, wie viele Lastwagen auf der Autobahn unterwegs waren! Da ist viel versäumt worden, nicht erst von der jetzigen Regierung, sondern in den Jahrzehnten zuvor. Man hätte viel früher mit dem Ausbau beginnen müssen. Özdemir: Kurz vor Corona habe ich am Rangierbahnhof in Kornwestheim ein Praktikum gemacht. In der Leitstelle habe ich zuerst gedacht, die zeigen mir die Museumsabteilung. Bis ich verstan- den habe, so wird das heute noch gemacht: Die fleißigen Leute dort müs- sen tatsächlich noch wie eh und je mit Schraubenkupplung per Hand kuppeln, nicht automatisch. Wir haben die Schie- ne einfach verrotten lassen. Wir reden immer von der Schuldenbremse. Die Schulden, die wir zum Beispiel bei der Infrastruktur haben, besonders bei der Schiene, übersehen viele. Ich hätte gerne Verhältnisse wie in der Schweiz oder in Österreich: pünktlich, sauber, bezahlbar. Dann dürften aber auch die Lokfüh- rer nicht so oft streiken. Wolf: Streiks sind in der Regel nicht konstruktiv. Man kann in der Tarifpolitik jedes Thema lösen. Dazu gehören zwei Partner, die vernünftig sind und um Lösungen ringen. Ich habe bei Südwest- metall acht Jahre lang das Tarifgeschäft betrieben – und immer versucht, mit der IG Metall einen Konsens zu finden. Mir fehlt das Verständnis dafür, dass die GDL streikt, obwohl ein gutes Angebot vorliegt. Özdemir: Was ich mich aber schon immer gefragt habe: Warum wird bei Tarifverhandlungen eigentlich immer erst spät in der Nacht das Ergebnis ver- kündet? Ich habe manchmal den Ein- druck, ihr habt euch am Abend schon geeinigt – aber wenn ihr dann schon vor die Presse tretet, heißt es bei euren Leuten, ihr habt nicht gut genug ver- handelt. Wolf: Klar, das ist schon auch ein Ritual. Bei Südwestmetall wollte ich es anfangs anders machen: Wir fangen morgens um zehn Uhr an und sind abends um acht oder neun Uhr durch. Ich bin kläglich gescheitert. Unsere Mitglieder hätten sonst gesagt: Wenn die bis morgens um drei verhandelt hätten, wär’s besser gewesen. Bei der IG Metall genauso. Meistens geht es auch wirklich so lange. Nur bei einem Abschluss hatten wir das Ergebnis tatsächlich schon um zehn. in Frankfurter Allgemeine Zeitung Autozulieferer können sich nicht mehr auf Vorprodukte aus der Ukraine verlassen. kein Gas oder Öl aus Russland mehr zu importieren, würde sich das dramatisch auf unsere Industrie, aber auch auf die Pri- vathaushalte auswirken. Die Inflation wäre zweistellig. Die Versorgungssicher- heit wäre ernsthaft gefährdet. Allein durch eine Abschaltung von Nord Stream 1 wür- den etwa 550 Terawattstunden ausfallen – bei einem Bedarf von rund 950 Terawatt- stunden pro Jahr. Langfristig ist klar, dass wir unabhängiger von russischen Impor- ten werden müssen, kurzfristig fehlen uns aber trotz der Bemühungen von Bundesre- gierung und EU-Kommission schlichtweg die Alternativen. Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine derzeit auf Ihr Unternehmen aus, den Autozulieferer Elring-Klinger? Wir gehören zwar nicht zu den rund 2000 deutschen Unternehmen, die Beteiligun- gen in der Ukraine haben und nun ganz direkt vom Krieg betroffen sind – deren Mitarbeiter nun schlicht um ihr Leben fürchten müssen. Mittelbar sind die Aus- wirkungen aber auch für uns erheblich: Eben weil ein Zulieferer in der Ukraine keine Kabelbäume mehr produzieren kann, stehen in der Autoindustrie nun schon wieder die Bänder still. Und damit nehmen die Hersteller automatisch auch entsprechend weniger von unseren Antriebskomponenten ab. So geht es jetzt natürlich ganz vielen Zulieferern. Das zeigt, wie verletzlich manche unserer Lieferketten bisher sind. Wie gehen Sie und Ihre Unternehmerkol- legen jetzt mit dieser Lage um? Das ist vor allem für unsere Mitarbeiter schon rein psychologisch ein sehr harter Rückschlag. Nach zwei Jahren mit all den Belastungen der Corona-Pandemie keim- te gerade etwas neue Zuversicht auf – und nun wirft uns direkt die nächste Megakri- se zurück. Umso wichtiger ist es, dass unsere Unternehmen jetzt dringend neue Zusagen der Bundesregierung benötigen, um in dieser Lage die Arbeitsplätze unse- rer Beschäftigten weiter zu sichern. Dazu brauchen wir auf jeden Fall noch einmal ein Nachsteuern bei den Regelungen zum Kurzarbeitergeld. Die Ampelkoalition bringt doch gerade schon ein Gesetz auf den Weg, um die Corona-Sonderregeln für Kurzarbeit bis Juni zu verlängern. Reicht das nicht? WirtschaftsWoche „Die Schwaben sind etwas Besonderes“ Der Grüne Cem Özdemir und Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf sind in Bad Urach zu Hause. Im F.A.S.-Gespräch loben sie die gemeinsame Heimat, sorgen sich um die Autobranche und streiten über die Bundestagswahl. Stefan Wolf Der Arbeitgeberverband Gesamtme- tall nennt die Metall- und Elektro- industrie, deren Belange er vertritt, das „Herz der Wirtschaft“. Tatsäch- lich umfasst diese die Kernbranchen der global ausgerichteten deutschen Industrie, von Autoherstellern und -zulieferern über den Maschinenbau bis zur Medizintechnik, insgesamt 24 000 Betriebe. Stefan Wolf, promo- vierter Jurist, ist seit Herbst 2020 Prä- sident von Gesamtmetall. Im Haupt- beruf leitet er seit 16 Jahren den Autozulieferer Elring-Klinger in der Nähe von Stuttgart, der an 44 Stand- orten 10 000 Menschen beschäftigt. Einst produzierte Elring- Klinger vor allem Zylinderkopfdich- tungen, inzwischen
sind auch Kom- ponenten für Elektroantriebe ein wichtiges Geschäftsfeld. Wir sind trotzdem sitzen geblieben und erst um halb drei rausgegangen. Aber das ist danach nie wieder vorgekommen. Özdemir: Auch in der Politik verbessert das Verhandeln bis ins Morgengrauen nicht unbedingt die Qualität der Beschlüsse. Und wenn wir in Zukunft noch gute Leute gewinnen wollen, die sich nicht mit ihrer vierten oder fünften Ehe schmücken, werden wir das ohnehin ändern müssen. In Schweden gibt es die Regel, dass die Regierung möglichst kei- ne Abendtermine macht. Ständig wird das Gespräch unterbrochen, weil Wolf und Özdemir jemanden begrüßen müssen: erst den Inhaber des Cafés, der eine Runde Butterbrezeln ausgibt, dann den Bürgermeister von der SPD, einen Jugend- freund Özdemirs, eine gemeinsame Bekann- te. Das Gespräch geht um die Besorgungen, die Özdemir anschließend noch im Metzin- ger Outlet-Center tätigen will – und um die modischen Fragen, die sich damit verbinden. anfangs im Aufsichtsrat hart kritisiert wurde. Wir müssen also Menschen den Umstieg aus der Industrie in Bereiche ermöglichen, in denen Mangel herrscht: im Handwerk, in den Dienstleistungen, in der Pflege. rund Das ist aber alles viel schlechter bezahlt! Wolf: Das ist ein Problem, klar. Einen Teil wird man über Fluktuation und Rente regeln können, aber nicht alles. Man muss den Jüngeren, die keinen Arbeitsplatz in der Produktion mehr fin- den, klarmachen: Ihr müsst in andere Bereiche, und ihr müsst auch Abstriche machen. Özdemir: Die AfD behauptet immer: Es kann alles bleiben, wie es ist. Diese Alternative ist in der realen Welt aber nicht vorhanden. Als das Smartphone aufkam, sagte der damals größte Handy- hersteller Nokia: Wir beherrschen den Markt, uns kann nichts passieren. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Das darf uns mit der deutschen Autoindus - trie nicht passieren. Wir müssen das mit Respekt von dem Geleisteten tun, aber wir dürfen uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen. Die Politik muss den Rahmen setzen, aber wir kön- nen auch nicht bis in alle Ewigkeit eine staatliche Kaufprämie von 6000 Euro für neue Elektroautos zahlen. Wolf: Absolut nicht. Özdemir: Aber es dauert noch eine Weile, bis ein Elektroauto nicht mehr teurer ist als ein herkömmliches. Deshalb brauchen wir andere Methoden, zum Beispiel ein echtes Bonus-Malus-System. Wolf: Entscheidend ist die Infrastruk- tur: fürs Laden von Elektroautos und fürs Betanken schwerer Lastwagen mit Wasserstoff. Mich stört, dass wir das nur auf nationaler Ebene diskutieren. Das ist ein europäisches Thema! Und es funk- tioniert nur, wenn aus der Ladesäule auch grüner Strom kommt. Sonst kön- nen wir gleich mit dem Verbrennungs- motor weiterfahren. Da liegt das größte Problem: Viele Menschen sind für Kli- maschutz, aber sie sind gegen ein Wind- rad in der Nähe des eigenen Hauses. Özdemir: Ich trage übrigens eine Krawat- te, weil ich heute meinen Auto-Tag, eigentlich Auto-Transformationstag, habe: Ich war beim neuen Bosch-Chef, dann beim Zulieferer Mahle, jetzt bei dir. Ich stelle fest: Bei der Autoindustrie ist man als Grüner inzwischen overdressed. Wolf: Bei Bosch gibt’s keine Krawatten mehr. Bei uns auch nicht. Özdemir: Aber ich habe sie nun mal gekauft, soll ich sie wegschmeißen? Wolf: Dann lass dir keine Krawatte auf- schwatzen, solltest du heute noch in Metzingen zum Einkaufen gehen! Özdemir: Ich brauche Schuhe. Nach der letzten Talkshow haben die Leute geschrieben, ich soll etwas mehr auf mein Schuhwerk achten. (Lacht.) 104 Spezial: Gesamtmetall in den Medien Spezial: Gesamtmetall in den Medien Klare Botschaften mit hoher Reichweite Wirtschaft SEITE 20 · FREITAG, 11. MÄRZ 2022 · NR. 59 „Ein Gas- und Ölboykott wäre dramatisch“ Stefan Wolf Foto Elring-Klinger Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Warnung vor einem „perfekten, langen Sturm“ Zum Schwaben-Image gehört, dass fast jedes Dorf sein Fabrikle hat, viele davon produzieren Teile für Verbren- nungsmotoren. Wird es diese Fabri- ken in Zukunft noch geben? Wolf: Ich bin immer dafür, dass man ehrlich ist: Einige Firmen werden die Transformation nicht schaffen. Wer bis- lang nichts unternommen hat, kann auf den Zug kaum noch aufspringen. Wer in Brennstoffzellen oder Batterietechnik investiert hat wie wir, der ist gut positio- niert – auch wenn ich zum Beispiel dafür erschwerten die Aufgaben der Noten- banken enorm. gegenseitig beeinflussen und uns noch eine Weile berühren werden.“ Das klingt jetzt sehr harmonisch. Wo sind Sie denn unterschiedlicher Mei- nung? Wolf: Die Grünen wollen, dass Autos mit Verbrennungsmotor ab 2030 verbo- ten werden. Das sehe ich ganz anders. Özdemir: Es geht um Neuzulassungen! Wolf: Aber unsere Branche braucht noch deutlich länger die Erträge aus dem Verbrennungsmotor, damit wir bei den neuen Technologien schneller vorankommen. Deutschland trägt nur zwei Prozent zum globalen CO2-Ausstoß bei. Wenn wir schon 2030 keine neuen Verbrennungsmotoren mehr zulassen, hilft das dem Klimaschutz wenig. Wenn wir aber weiterhin gutes Geld erwirt- schaften und ich für jedes zweite Auto in Indien ein Batteriemodul verkaufe, dann haben wir für den Klimaschutz viel mehr getan. Özdemir: Winfried Kretschmann hat die Forderung 2017 als einen Weckruf für die Wirtschaft interpretiert. Vier Jahre später würde ich sagen, das hat funktio- niert. Das Ziel ist erreichbar und wichtig für den Klimaschutz wie für unsere Wettbewerbsfähigkeit. Stimmt eigentlich das Klischee, dass die Schwaben ein besonderes Ver- hältnis zur Arbeit haben? Wolf: Neulich sagte ein Mitarbeiter zu mir: Diesen Begriff Work-Life-Balance finde ich total blöd. Das vermittelt den Eindruck, Work ist schlecht und Life ist gut. Aber mein Leben ist doch die Arbeit! In Baden-Württemberg haben wir schon eine besondere Arbeitsmoral, die sich historisch gebildet hat. Es ist das Land der Denker und Tüftler. Wir haben extrem viele Patente. Und das alles betrifft nicht nur die Firma, son- dern auch die Freizeit. Viele bauen sich ihr Häuschen selbst, helfen sich im Dorf dabei gegenseitig. Özdemir: Außerdem sind wir das Land von Schiller, Hölderlin, Hegel. Unser Ministerpräsident liest die Bücher, über die sonst nur geredet wird. Wir halten, was die anderen versprechen: Bei den Ladestationen für Elektroautos sind wir in Deutschland führend, bei der CO2- Einsparung auch. Unser neuer Koali- tionsvertrag mit der CDU ist das erste und einzige Regierungsprogramm in ganz Deutschland, das die Pariser Kli- maziele umsetzt. dabei immer anfälliger, genauso wie Corona: „Wir befinden uns in einem Zeit- alter wiederkehrender Pandemien. Wir müssen die Vorbereitung auf sie so füh- ren wie jetzt auf den Klimawandel. Davon aber ist die Welt noch weit ent- fernt.“ Allein der Kampf gegen die Erd- erwärmung erfordere über die nächsten 30 Jahre Investitionen von rund 3,5 Bil- lionen Dollar – fast die jährliche Wirt- schaftsleistung Deutschlands. Singapurs führender Wirtschaftspolitiker Tharman Shanmugaratnam sieht nie dagewesene Risiken für die Welt che. SINGAPUR. Die Welt stehe vor einem „perfekten, langen Sturm“, warnt Tharman Shanmugaratnam. Der Singa- purer Spitzenpolitiker wirkt oft hinter den Kulissen der Weltfinanz, deren Spie- lern aber ist er bestens vertraut: Shan- mugaratnam war über Jahre Finanzmi- nister des Stadtstaates, gilt als dessen ewig verhinderter Ministerpräsident und arbeitet in Spitzenpositionen beim Inter- nationalen Währungsfonds (IWF). Er ist Aufseher der Notenbank Monetary Authority of Singapore (MAS) des rei- chen Stadtstaates und Direktor des welt- umspannenden Staatsfonds GIC. Spricht er nun von „einer Ära tiefgreifender Unsicherheit und Fragilität“, hören viele in den Finanzzentren genau zu. „Wir ste- hen vor einer Kombination aus Risiken und Anfälligkeiten, die in den letzten 75 Jahren ohne Beispiel ist.“ Der Singapu- rer warnt vor „lang anhaltender geopoli- tischer Unsicherheit“. „Diesmal geht es nicht nur um Ölprei- se, sondern auch um Lebensmittel, Industriemetalle, Düngemittel und ande- re Rohstoffe. Der Krieg und die Sanktio- nen belasten auch die Lieferketten, die sich in den letzten zwei Jahren zu erholen begannen“, sagt er. Dabei böten der Blick in die Vergangenheit, aber auch ökono- mische Modelle keine Hilfe mehr: „Es gibt kaum Präzedenzfälle für Ereignisse dieses Ausmaßes, für Sanktionen dieses Ausmaßes oder für Energie- und Roh- stoffpreissteigerungen dieser Geschwin- digkeit und Größenordnung.“ Der Singapurer wendet sich gegen ein Verschließen der Augen, das Sich-selbst- Belügen: „Wir dürfen nicht auf der Grundlage von Prognosen oder Szena- rien arbeiten, die unsere Hoffnungen widerspiegeln, im Gegensatz zu dem, was drohen könnte. Trotz zahlreicher Bewei- se wurden die Risiken (in der Ukraine) ignoriert oder heruntergespielt. Auch die Corona-Pandemie erinnert uns daran. Die Risiken waren überall zu sehen, und sie wurden ignoriert.“ Das Gefälle von Wachstum und Wohl- stand führe dabei zu wachsender Fragili- tät. Der russische Überfall auf die Ukrai- ne werde die Risiken noch verschärfen: „Risiken, mit denen insbesondere die Entwicklungsländer konfrontiert sind – sowohl aufgrund höherer Inflation und langsameren Wachstums. Eine weltweite Nahrungsmittelkrise wird die ärmeren Länder hart treffen.“ Shanmugaratnam erinnerte daran, das sprunghaft höhere Lebensmittelpreise zum Arabischen Frühling geführt hätten. Die nun „prak- tisch sicher“ höheren Inflationsraten Industrieverbands-Chef schlägt Alarm Industrieverbands-Chef schlägt Alarm Industrieverbands-Chef schlägt Alarm Das Gefährliche dieser Faktoren sei deren Zusammenspiel. „Dies ist nicht nur ein perfekter Sturm im herkömmli- chen Sinne, mit einem Zusammentreffen einmaliger, konjunktureller Faktoren. Hier geht es um strukturelle Verschie- bungen. Wir sprechen nicht von zykli- schen oder zufälligen Schocks. Es sind strukturelle Verschiebungen, die sich Rot-Rot-Grün gefährdet Rot-Rot-Grün gefährdet Rot-Rot-Grün gefährdet Rot-Rot-Grün gefährdet Rot-Rot-Grün gefährdet Hunderttausende Jobs Hunderttausende Jobs Hunderttausende Jobs Mit Blick auf die Lage in der Ukraine laute die einzige Frage, wie schlimm es nun werde. „In jedem Szenario wird Russland geschwächt werden. Es wird sowohl wirtschaftlich als auch politisch an Ansehen verlieren und stärker isoliert sein.“ Der Wirtschaftsexperte erwartet, dass ausländische Investoren Moskau auf sehr lange Zeit den Rücken zukehrten, die besser ausgebildeten Russen das Land verließen. In der Corona-Pandemie haben wir erlebt, was in Deutschland alles nicht funktioniert, übrigens auch in Baden- Württemberg. Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass es in der Klimakrise plötzlich klappt? Özdemir: Corona hat uns vor Augen geführt, dass wir längst nicht so modern sind, wie wir immer dachten. Ich habe großen Respekt vor den Verdiensten unserer Bundeskanzlerin. Aber zur Bilanz dieser 16 Jahre gehören auch die Gesundheitsämter mit Faxgerät, Funk- löcher und die Schulen ohne Internet. Ich staune, dass der Kandidat dieser Par- tei auf einmal ein Modernisierungsjahr- zehnt ankündigt. Wolf: Wir müssen das Land entbüro- kratisieren. Ständig kommt etwas Neu- es, die Datenschutz-Grundverordnung oder das Lieferkettengesetz. Außerdem haben wir durch Corona enorme Staatsausgaben produziert. Bei uns im Unternehmen haben wir vor zwei Jah- ren ein Programm zur Effizienzsteige- rung aufgesetzt und uns jede Kosten- position angeschaut. Warum soll das in einem Ministerium nicht funktionie- Herr Wolf, können Sie mit jedem Grünen so harmonisch diskutieren wie mit Herrn Özdemir? Wolf: Mit Winfried Kretschmann kann ich auch auf diesem Niveau sprechen. Ihm ist Klimaschutz wichtig, aber gleichzeitig hat er einen klaren Blick für die Bedürfnisse der Wirtschaft. Mit Frau Baerbock geht das nicht. Özdemir: Dann hast du es vielleicht nicht richtig versucht. Annalena Baerbock kennt sich nicht nur aus mit der Transformation, sie sagt auch: Baden-Württemberg ist die Blaupause für Berlin. Wolf: Das höre ich zum ersten Mal. Özdemir: Das war bei der Wahlkampf- Eröffnung in Heidelberg. Wolf: Ich hoffe, sie kann sich nach der Wahl noch daran erinnern. Özdemir: Da mache ich mir keine Sor- gen. Sie weiß, wie erfolgreich wir hier regieren. späteren Renteneintritt ergebe sich in der Rentenkasse auf mittlere Frist ein jährliches Defizit in zweistelliger Milliardenhöhe, pro - gnostizierte der Expertenrat des staatlichen Conseil d’orientation des retraites. Im laufenden Präsident- schaftswahlkampf fordert Valérie Pécresse, Kandidatin der bürgerli- chen Republikaner, ebenfalls einen Renteneintritt mit 65 Jahren. Auch die in den Umfragen aktuell zweit- platzierte Kandidatin Marine Le Pen vom rechten Rassemblement Natio- nal ist abgerückt von ihrer Forde- BILD rung, zum allgemeinen Rentenein- tritt mit 60 Jahren zurückzukehren. Können Sie sich eine grüne Bundes- kanzlerin vorstellen, Herr Wolf? Wolf: Schon, aber nicht mit diesem Programm. Weil die Grünen eine wirt- schaftsfeindliche Linie vertreten und mit neuen Vorschriften die Bürokratisierung vorantreiben wollen. Das halte ich für schädlich. Özdemir: Die Freiheit gefährden wir dann, wenn die Klimakrise weitergeht. Die Trippelschritte beim Klimaschutz werden wir uns nicht mehr leisten kön- nen. Das muss klar sein – ganz gleich, wie kompliziert die Koalitionsverhand- lungen nach dem 26. September werden. Es drohe globale Stagflation. Die wachsende Klimakrise mache die Welt Er hat kräftig darüber geschimpft! Özdemir: Ich erinnere mich gut. Mittler- weile sagt man mir zum Beispiel bei Audi oder bei Daimler: Wir werden aus- © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Alle Rechte vorbehalten. Zur Verfügung gestellt vom Ohne Das Gespräch führte Ralph Bollmann. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Alle Rechte vorbehalten. Zur Verfügung gestellt vom Berlin – Stefan Stefan Berlin – hef des hef des Wolf (60), Chef des Wolf (60), Chef des Wolf (60), Chef des Wolf (60), Chef des Indust Indust- mächtigen Indust mächtigen Indust mächtigen Indust mächtigen Indust des Ge- rieverbandes Ge rieverbandes Ge ll, warnt ll, warnt samtmetall, warnt samtmetall, warnt samtmetall, warnt samtmetall, warnt Rot-Grün regiert! Rot-Grün regiert! Grund: Sowohl SPD, Grüne als auch Linkspartei planen höhere Wolf sagte BILD, das „wäre eine Ka- tastrophe für den Wohlstand in unse- rem Land“. Schon die höchsten Steu- ern zahlen. „Wenn die Abgaben wei- ter steigen, so wie es Linke und SPD In Sorge: In Sorge: Gesamt- metall-Boss Stefan Wolf N N A M U A ✔ ✔ ✔ ✔ © PMG Presse-Monitor GmbH 4 / 4 Zum Inhaltsverzeichnis