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„Die Sozialbeiträge müssen runter“

Koali­ti­onss­treit

Deutliche Einsparungen in den Sozialversicherungen sind mühsam, aber notwendig, sagt Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander im Interview mit der Stuttgarter Zeitung:

Herr Zander, was würde es für die deutsche Wirt­schaft bedeuten, wenn es nicht gelingen sollte, den Anstieg der Sozi­al­bei­träge in den kommenden Jahren mindes­tens zu begrenzen?

Die deutsche Wirt­schaft befindet sich in der längsten Wirt­schafts­krise seit Gründung der Bundes­re­pu­blik. Das liegt am Kosten­pro­blem des Standorts bei Steuern, Energie und Sozi­a­l­ab­gaben. Wenn die Sozi­a­l­ab­gaben weiter ansteigen, wird die Inves­ti­ti­ons­schwäche anhalten und die Arbeits­lo­sig­keit wird weiter zunehmen. Das Wort für das, was dann verschärft passiert, ist Dein­dus­tri­a­li­sie­rung.

Der Kanzler sagt, wir könnten uns den Sozi­al­staat so, wie er ist, nicht mehr leisten. Arbeits­mi­nis­terin Bärbel Bas hat das „Bullshit“ genannt. Trauen Sie Schwarz-Rot eine große, gemein­same Sozi­al­re­form zu?

Der deutschen Wirt­schaft droht eine Spirale nach unten. Wenn nichts verändert wird, werden die Beiträge insgesamt im schlimmsten Fall bis 2035 von jetzt 41,9 Prozent, bei Kinder­losen schon jetzt 42,5 Prozent, auf dann bis zu 53 Prozent steigen. Dann wären wir nicht einmal mehr ansatz­weise inter­na­ti­onal wett­be­werbs­fähig. Wenn die Wirt­schaft komplett in die Knie geht, haben wir auch keinen Sozi­al­staat mehr. In dieser Situation erwarten wir, dass Union und SPD eine grund­le­gende Sozi­al­re­form hinbe­kommen. Beide wollen mehr Menschen in Arbeit. Beide wollen, dass die Sozi­a­l­ver­si­che­rung effi­zi­enter wird. Beide wollen eine Orga­ni­sa­ti­ons­re­form der Sozi­a­l­ver­si­che­rung mit heute über 350.000 Beschäf­tigten. Da muss sich etwas bewegen.

Wie viel muss in den Sozi­a­l­ver­si­che­rungen gespart werden?

Ein Beitrags­punkt in den Sozi­a­l­ver­si­che­rungen macht über 13 Milli­arden Euro aus. Das bedeutet, wenn wir bei den Beiträgen wieder klar unter 40 Prozent kommen wollen, müssen dort 40 Milli­arden Euro einge­spart werden. Das ist mit einem guten Plan absolut machbar.

Müssen die Menschen Leis­tungs­kür­zungen fürchten?

Es wäre ein Start, die Leis­tungen nicht immer weiter auszu­weiten. Fünf Milli­arden Euro zusätz­lich im Jahr für die Mütter­rente müssen nicht sein. Und man muss jeden Stein umdrehen. Wie jedes Unter­nehmen es in einer Krise auch tut. Dann findet man auch Ausgaben, die gekürzt werden können, ohne dass bei der Kran­ken­ver­si­che­rung zum Beispiel die Patienten darunter zu leiden hätten.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

In Deut­sch­land haben wir über­pro­por­ti­onal viele Opera­ti­onen: insbe­son­dere Knie, Rücken und Hüfte. Die Kapa­zi­täten sind da – also werden diese Eingriffe auch gemacht. Aber wer glaubt denn, dass die Deutschen in dieser Hinsicht so viel behand­lungs­be­dürf­tiger sind als andere? Oder nehmen Sie mal diesen Umstand: Der Rein­er­trag einer radio­lo­gi­schen Arzt­praxis beträgt laut Statis­ti­schem Bundesamt im arith­me­ti­schen Mittel 1,18 Mio. Euro. Da dürften fast alle im Land außer den Radio­logen mit Recht der Meinung sein, dass es auch eine geringere Vergütung sein könnte.

An welchen Stellen wollen Sie auch den Menschen selbst etwas zumuten?

Es wäre zum Beispiel richtig, den Anspruch auf Arbeits­lo­sen­geld I auf zwölf Monate zu begrenzen. Für Ältere beträgt er 18 Monate, teilweise sogar 24 Monate. Hier hatte man im Rahmen der Hartz-IV-Gesetz­ge­bung schon einmal den Anspruch begrenzt – und hat ihn später wieder ausge­weitet. Das war ein Fehler.

Viele fanden es damals ungerecht, wenn Menschen nach einem Jahr aus dem Arbeits­lo­sen­geld I heraus­fallen, obwohl sie über eine sehr lange Zeit Beiträge gezahlt hatten.

Die Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung ist kein Sparbuch, sondern eine Risi­ko­ver­si­che­rung. Die Statis­tiken zeigen uns: Unab­hängig von der Konjunktur und der Arbeits­markt­si­tua­tion schöpfen die Betrof­fenen hier in hoher Zahl den vollen Anspruch aus. Bei denen, die zwölf Monate Anspruch hätten, schaffen es, je nach Konjunktur, viele schneller in Arbeit. Das wäre auch für die älteren Arbeits­losen selbst wichtig, damit sie den Anschluss nicht verlieren.

Braucht es nicht auch einen Kultur­wandel in den Unter­nehmen, damit ältere Arbeit­nehmer wirklich bis zum regulären Renten­ein­tritts­alter beschäf­tigt werden – oder, falls sie arbeitslos geworden sind, auch eine neue Chance erhalten?

Die Lage in den Betrieben ist da sehr unter­schied­lich. Es gibt viele Menschen, die bis zum Renten­ein­tritts­alter arbeiten oder sogar darüber hinaus.

Ist die Rente ab 70 notwendig?

Ich bin dagegen, mit plaka­tiven Zahlen zu operieren. Wenn die Lebens­er­war­tung steigt, wird ein Teil dieser Zeit auch in die Erwerbs­a­r­beit gehen müssen. Notwendig sind gute Lösungen für die Menschen, die nicht mehr arbeiten können. Schluss sein muss vor allem mit poli­ti­schen Wider­sprüch­lich­keiten: Erst machen wir eine Rente mit 63 – und ermög­li­chen es damit Menschen, früher in den Ruhestand zu gehen, obwohl es volks­wirt­schaft­lich nicht sinnvoll ist. Und dann führen wir die Aktivrente ein, damit sie wieder arbeiten. Das ist doch abstrus. Die Rente ab 63 gehört abge­schafft.

Aus Ihrer Sicht müssten Einspa­rungen in den Sozi­a­l­ver­si­che­rungen also durch eine Vielzahl von Maßnahmen zusam­men­kommen.

Ja. Das ist mühsam, aber es geht. Wenn Union und SPD sich nicht auf ein Paket von Spar­maß­nahmen einigen können, müssen sie notfalls alle Ausgaben der Sozi­a­l­ver­si­che­rungen mit dem Rasen­mäher um fünf Prozent kürzen. Die Sozi­al­bei­träge müssen runter. Nur so kann es neues Wachstum geben. Und nur so können wir den Sozi­al­staat dauerhaft für die Menschen retten. Darum geht es.

Sozi­al­kür­zungen sind ein sehr schwie­riges Thema für die SPD. Was macht sie zuver­sicht­lich, dass dieser Teil der Koalition mitzieht?

Wenn medi­zi­ni­sche Leis­tungen zukünftig etwas niedriger vergütet werden, dann trifft das nicht die Bedürf­tigen. Auch wenn lang­jäh­rige Bezieher von früher Grund­si­che­rung und heute Bürger­geld ange­halten werden sollten, gemein­nüt­zige Arbeit zu leisten, dann fänden das nach meiner festen Über­zeu­gung sehr viele Arbeiter und damit die eigent­lich klas­si­sche SPD-Wähler­k­li­entel gut. Der Arbeiter im Ruhr­ge­biet, der soge­nannten Herz­kammer der SPD, ist dafür, dass dieje­nigen, die arbeiten können, arbeiten. Die Kernfrage lautet doch: Wer braucht eine Sozi­al­leis­tung und wer braucht sie nicht? Wenn die SPD klug ist, stellt sie sich endlich an die Spitze der Bewegung. Ohne eine stabile Wirt­schaft gibt es keine stabile Regierung.