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„Ein Abschluss mit Tabellenerhöhung muss eine Zeit abdecken, in der wieder mit Wachstum zu rechnen ist.“

M+E-Tarif­runde 2022

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf in der Augsburger Allgemeinen über die Probleme des deutschen Industriestandorts und einen Kompromiss in der Tarifrunde der M+E-Industrie:

Herr Wolf, die Tarif­ver­hand­lungen in der Metall­in­dus­trie kommen nicht voran. Bayerns IG-Metall-Chef Johann Horn ist verärgert und sagt: „Viele empfinden es als Frechheit, dass die Arbeit­geber immer noch keine Proz­ent­zahl angeboten haben.“ Warum wollen Sie bisher nur eine Einmal-Zahlung von 3000 Euro gewähren und zahlen den Beschäf­tigten nicht, wie in der Chemie-Industrie, zusätz­lich dauerhaft 6,5 Prozent mehr Lohn?

Wir haben ja schon gesagt, dass wir uns auch eine Tabel­len­er­hö­hung vorstellen können. Aber für das nächste Jahr ist Rezession vorher­ge­sagt – es gibt also kein Wachstum, das man verteilen kann. Ein Abschluss mit Tabel­len­er­hö­hung muss eine Zeit abdecken, in der wieder mit Wachstum zu rechnen ist. Das ist nun einmal erst 2024 wieder absehbar.

IG-Metall-Vorsit­zender Jörg Hofmann nennt das Angebot von einmalig 3.000 Euro einen „Schein-Riesen“. Denn bei der avisierten Laufzeit von 30 Monaten seien dies nur 100 Euro pro Monat. Ist das nicht zu wenig, wenn viele Beschäf­tigte Tausende Euro mehr für Energie und Lebens­mittel ausgeben müssen? Die IG Metall spricht von einer „Provo­ka­tion“.

Ich verstehe die ableh­nende Haltung der IG Metall nicht. Diese 3.000 Euro sind aus Sicht vieler Unter­nehmen, die unter der Ener­gie­krise leiden, ein groß­zü­giges Angebot.

Noch einmal: Ist die Einma­l­zah­lung von 3.000 Euro ein „Schein­riese“?

Keiner meiner Mita­r­beiter käme auf die Idee, 3.000 Euro netto einfach so beiseite zu wischen – auch die sechs­stellig verdie­nenden Inge­ni­eure nicht.

Wann und wie stark sollen die Löhne dauerhaft prozen­tual steigen?

Die Reak­ti­onen auf unser Angebot von Herrn Hofmann sind Teil seiner Stel­len­be­schrei­bung. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein IG-Metall-Chef das erste Angebot der Arbeit­geber toll fand und sofort öffent­lich zuge­stimmt hat. Wir haben uns noch immer geeinigt.

Doch die Gewerk­schaft argu­men­tiert, die Beschäf­tigten bräuchten ange­sichts einer Inflation von zuletzt 10,4 Prozent dringend eine spürbare Lohn­er­hö­hung von acht Prozent. Wie viel legen Sie auf die 3000 Euro, welche die Regierung steuer- und abga­ben­frei gestellt hat, drauf?

Die Unter­nehmen trifft die Preis­ent­wick­lung genauso wie die Beschäf­tigten. Das Lohn­ni­veau in der Metall- und Elektro-Industrie liegt deutlich über dem im Pfle­ge­be­reich oder dem, was ein Gärtner, eine Arzt­hel­ferin oder eine Verkäu­ferin im Einzel­handel verdient. All diese Menschen leiden aber auch unter der hohen Inflation. Da wäre in der Metall- und Elektro-Industrie einmal soli­da­ri­sches Maßhalten bei der Lohn­er­hö­hung gefragt. Das ist für mich eine gesell­schafts­po­li­ti­sche Frage. Denn schon so verdient ein Beschäf­tigter in der Metall- und Elektro-Industrie pro Stunde 7 Prozent mehr als im Durch­schnitt der Industrie. Aber noch mal: Wir werden schon einen vernünf­tigen Kompro­miss finden, denn der Kompro­miss ist das Prinzip.

Die IG Metall hat es nicht so mit Maßhalten und scheint bereit zu sein, die Gangart zu verschärfen, also die zeitlich befris­teten Warn­streiks auf 24-Stunden-Streiks auszu­dehnen. Auch einen länger laufenden Arbeits­kampf schließt die Gewerk­schaft nicht aus. Passen solche Proteste in unsere Krisen-Zeit?

Streiks passen ganz und gar nicht in unsere Krisen­zeit. Noch ist die Auftrags­lage für viele Firmen nämlich gut. Das dürfen wir nicht durch Streiks gefährden. Die Aufträge müssen jetzt abge­ar­beitet werden. Wir dürfen die durch hohe Ener­gie­preise gebeu­telte deutsche Wirt­schaft mit Streiks nicht weiter schädigen. Das muss die IG Metall bedenken. Und wer hat schon Verständnis für einen solchen Arbeits­kampf. „Zusammen nach vorn“ ist jetzt mehr denn je das Gebot der Stunde.

Wie ernst ist denn die wirt­schaft­liche Lage vieler Metall-Betriebe?

Nach einer unserer Umfragen sieht sich jeder sechste Betrieb der Metall- und Elektro-Industrie durch die hohen Ener­gie­preise in seiner Existenz gefährdet. Das ist mehr als ein Alarm­si­gnal. Denn diese Entwick­lung könnte den Indus­tri­e­standort Deut­sch­land gefährden. Unsere Indus­trie­land­schaft würde sich massiv verändern, wenn in einem Jahr wirklich so viele Betriebe aufgeben müssten. Da hängen sehr, sehr viele Arbeits­plätze dran. Und die wollen wir als Arbeit­geber erhalten. Doch im kommenden Jahr besteht zumindest die Gefahr, dass sich der Beschäf­ti­gungs­abbau in unserer Branche fortsetzt. Während der Corona-Krise sind rund 200.000 Arbeits­plätze wegge­fallen, dann sind wieder neue Stellen geschaffen worden.

Sorgen Sie sich um den Indus­tri­e­standort Deut­sch­land? Sie sind eigent­lich ein Optimist.

Ich sorge mich in der Tat um den Indus­tri­e­standort Deut­sch­land. Denn die Unter­nehmen leiden nicht nur unmit­telbar unter den hohen Ener­gie­preisen. Sie sehen sich auch einer massiven Wett­be­werbs­ver­zer­rung ausge­setzt. Schließ­lich sind die Ener­gie­kosten in China und den USA deutlich günstiger als in Deut­sch­land.

Besteht die Gefahr, dass Unter­nehmen in zuneh­mendem Maße die Produk­tion von Deut­sch­land in die USA und nach China verlagern?

Diese Gefahr besteht ganz sicher. Schließ­lich ist Deut­sch­land besonders von der Energie-Krise betroffen. Dabei gibt es auch in Europa Länder mit güns­ti­geren Ener­gie­preisen. Es besteht also nicht nur die Gefahr, dass Produk­tion und Arbeits­plätze in die USA und China abwandern. Solche Verla­ge­rungen könnten sich auch von Deut­sch­land aus in andere euro­pä­i­sche Staaten voll­ziehen. Und es wird bereits Produk­tion von Deut­sch­land aus in andere Länder verlagert. Dieser Prozess könnte sich enorm beschleu­nigen. Das hängt im Übrigen nicht nur an den Ener­gie­kosten, sondern auch an der Versor­gungs­si­cher­heit, verfüg­baren Arbeits­kräften und vielem mehr.

Ist dieser Prozess unaus­weich­lich?

Nein. Wenn es uns in Deut­sch­land wie in der Vergan­gen­heit gelingt, wieder eine gute und verläss­liche Ener­gie­ver­sor­gung zu schaffen, und beispiels­weise die wild­wu­chernde Büro­kratie zu stutzen, könnte unser Indus­tri­e­standort sein hohes Niveau behalten. Wir müssen Deut­sch­land umfassend moder­ni­sieren, Rahmen­be­din­gungen verbes­sern und dabei alle Menschen mitnehmen. Doch noch fehlt es dazu an entspre­chenden poli­ti­schen Konzepten. Wenn wir aber eine verläss­liche Ener­gie­er­zeu­gung anstreben, führt an der Atomkraft kein Weg vorbei, zumal wenn wir mittel­fristig alle elek­trisch fahren. Wo soll denn der zusätz­liche Strom herkommen?

Sind Sie zumindest mit den von der Bundes­re­gie­rung beschlos­senen Ener­gie­preis-Bremsen zufrieden?

Grund­sätz­lich ja. Aber damit Unter­nehmen diese staat­liche Unter­stüt­zung auch erhalten, hat die Bundes­re­gie­rung daran zu viele Auflagen geknüpft. Für die Unter­stüt­zung muss eine einsei­tige Erklärung zum Stand­ort­er­halt reichen! Und wir wissen bisher leider nur, dass der Ener­gie­preis-Deckel für uns kommt, aber nicht auf welchem Niveau er sich bewegen wird. Wir brauchen hier eine deutliche, sehr schnelle Entlas­tung.

Sie wünschen sich auch in der Tarif­runde finan­zi­elle Entlas­tungs­mög­lich­keiten für Betriebe.

Das wünschen wir uns, weil die wirt­schaft­liche Lage unserer Betriebe wohl noch nie so unter­schied­lich wie jetzt war. Manchen Betrieben geht es noch gut und manchen schon schlecht. Dem müssen wir durch einen Tari­f­ab­schluss gerecht werden, der es ermög­licht, variable und – je nach wirt­schaft­li­cher Lage des Unter­neh­mens – diffe­ren­zierte Lösungen zu finden.

Was streben Sie hier konkret an?

Wenn es Unter­nehmen schlecht geht, müssen sie die Möglich­keit haben, Zahlungen an Beschäf­tigte ganz zu streichen oder auf Zeiten zu schieben, in denen es ihnen wieder besser geht. Eine solche Regelung haben wir schon im letzten Abschluss fest­ge­legt. Das wollen wir jetzt dauerhaft haben.

Die IG Metall pocht aber darauf, dass die Gewerk­schaft bei solchen betrieb­li­chen Rege­lungen mitreden darf und Einblick in die Bücher bekommt.

Eine Regelung mit objek­tiven, nach­prüf­baren Kriterien ist fair, schnell und hat sich im Abschluss 2021 bewährt. Und ich verstehe nicht, dass die IG Metall ihren Betriebs­rä­tinnen und Betriebs­räten gar nichts zutraut. Betriebs­räte kennen sich doch gut aus. So können wir schneller Lösungen finden. Wir streben auch Bündnisse für Arbeit auf Betrieb­s­ebene an. Wir trauen als Gesamt­me­tall unseren Mitglieds­un­ter­nehmen solche Lösungen zu. Doch die IG Metall will immer den Finger drauf­halten, weil sie den Betriebs­räten misstraut. Klar ist jeden­falls: Ohne diffe­ren­zierte Lösungen machen wir keinen Abschluss mit der IG Metall. Wir brauchen dieses Jahr solche Instru­mente mehr denn je. Kommt es jedoch nicht dazu, könnten Unter­nehmen dem Tarif­ver­trag den Rücken kehren. Tarif­flucht trifft die IG Metall wie uns. Mir ist vor allem wichtig: Das Maß aller Dinge für Deut­sch­land muss es jetzt sein, Arbeits­plätze zu erhalten.

Sie werden bezich­tigt, Ihre private Haus­häl­terin über Jahre hinweg schwarz beschäf­tigt zu haben. Nun ermittelt die Staats­an­walt­schaft Tübingen gegen Sie. Wie stehen Sie zu diesen Vorwürfen? Ist da was dran?

Zu den persön­li­chen Vorwürfen werde ich mich öffent­lich nicht äußern.

Das Interview führte Stefan Stahl, Augs­burger Allge­meine Zeitung.