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„Es ist ein verheerendes Signal“

Dauer­streit in der Regierung

Ist Deutschland zu bequem geworden? Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf im Interview mit t-online über die dringenden Aufgaben der Ampel und unbequeme Wahrheiten für die Deutschen.

Herr Wolf, Deut­sch­land ist wirt­schaft­lich wieder der „kranke Mann Europas“. An welchen Gebrechen leiden wir?

Deut­sch­land hat gleich mehrere Krank­heiten. Es fängt an bei den teuren Ener­gie­preisen, geht weiter bei der Büro­kratie und den ewig langen Geneh­mi­gungs­ver­fahren und endet mit den hohen Lohn- und Lohn­ne­ben­kosten sowie der Unter­neh­mens­steuer. In der Summe macht das Deut­sch­land als Standort unat­traktiv. Kein Wunder, dass der Inter­na­ti­o­nale Währungs­fonds uns als einzigem großem Indus­trie­land einen Abschwung prognos­ti­ziert.

Die Corona-Pandemie und auch die ersten Auswir­kungen des russi­schen Angriffs auf die Ukraine hat die deutsche Wirt­schaft relativ gut verkraftet. Warum haben wir jetzt das Nachsehen?

Das sehe ich anders. Die heutigen Probleme der deutschen Wirt­schaft beginnen viel früher, weit vor Corona.

Wann denn?

Ende 2018 und dann im Jahr 2019 mit der Indus­trie­re­zes­sion. Damals schon hat etwa die Auto­in­dus­trie erste Rückgänge verzeichnet. 2020 dann, mit der Pandemie, ist die Anzahl der produ­zierten Fahrzeuge weltweit von 90 auf 72 Millionen extrem einge­bro­chen. Zum Vergleich: Wenn es alles gut geht, laufen dieses Jahr viel­leicht 80 Millionen Fahrzeuge vom Band – das sind also immer noch 10 Millionen Autos weniger als 2018. Auch die Mate­ri­al­preise sind noch nicht wieder aufs Vorkri­sen­ni­veau gesunken. Das spüren vor allem kleine Unter­nehmen. Der Mittel­stand hat die Krise noch nicht verkraftet. Und jetzt kommen noch weitere Belas­tungen dazu.

Sie beklagen vor allem die Rahmen­be­din­gungen in Deut­sch­land, die Regu­lie­rung. Aber kann es nicht sein, dass die Probleme auch woanders liegen – ist unser Land nicht einfach zu satt?

Wir sind eine bequeme Wohl­stands­ge­sell­schaft geworden. Deshalb fehlt gerade auch manchen jungen Menschen der Biss. Sicher, es gibt auch viele Menschen, die motiviert sind, die sich etwas erar­beiten wollen. Doch das Gros der Deutschen ist in Zeiten des blühenden Wohl­stands aufge­wachsen und betrachtet diesen viel­leicht als selbst­ver­ständ­lich – was er aber nicht ist. Da habe ich in Indien und China eine andere Menta­lität erlebt.

Was genau meinen Sie damit?

Derzeit ist bei uns oft die Rede von Work-Life-Balance. Dabei wird impli­ziert, dass Arbeit das Schlechte und Freizeit das Gute ist. Das ist so natürlich albern. Was wir statt­dessen brauchen, sind klare Worte, wie einst von Gerhard Schröder, der die Agenda 2010 ausrief, oder vom früheren Bundes­prä­si­denten Roman Herzog mit seiner „Ruck-Rede“. Doch dafür muss jemand die Führung über­nehmen und die Gesell­schaft mitnehmen.

Eigent­lich eine Aufgabe für den Bundes­kanzler.

In der Tat ist das seine Aufgabe und sie ist aktuell wichtiger denn je. Ich habe leider den Eindruck, dass vielen die Dramatik der wirt­schaft­li­chen Lage nicht bewusst ist. Dabei muss die Ruck-Menta­lität von der Regierung ausgehen. Da muss jetzt was kommen. Falls die Ampel­re­gie­rung bei ihrer nächsten Kabi­netts­klausur in Meseberg Ende August nicht zu wirklich über­zeu­genden Beschlüssen kommt, droht uns eine heftige Dein­dus­tri­a­li­sie­rung. Davon hängt das Ansehen der Ampel­ko­a­li­tion ab.

Was würde Sie denn über­zeugen?

Es bedarf jetzt kurz­fris­tiger Impulse, die der Wirt­schaft noch dieses Jahr helfen – und dann braucht Deut­sch­land eine echte Agenda 2030. Damit meine ich ein umfas­sendes Moder­ni­sie­rungs­paket, das die Rahmen­be­din­gungen in unserem Land grund­le­gend verbes­sert, das dafür sorgt, dass Firmen wieder gern bei uns inves­tieren und hier Arbeits­plätze schaffen.

Finanz­mi­nister Christian Lindner hat dafür eine Steu­er­re­form ins Spiel gebracht.

Ja, und das ist gut so. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Ampel macht nicht alles verkehrt. Dieses Wachs­tums­chan­cen­ge­setz ist ein Schritt in die richtige Richtung, …

… wurde aber gerade durch ein Veto der Fami­li­en­mi­nis­terin vorerst gestoppt.

Was immer da vorge­gangen ist: Das geht so nicht. Es ist schlicht ein verhee­rendes Signal, wenn die Ampel­ko­a­li­tion so streitet, während die Unter­nehmen dringend Entlas­tungen brauchen und der Standort Deut­sch­land wieder attraktiv für Inves­ti­ti­onen werden muss. Ich erwarte vom Bundes­kanzler, dass er bis zur Kabi­netts­klausur in Meseberg eine Einigung herbei­führt, damit das Gesetz schnellst­mög­lich in Kraft treten kann.

Der andere Ansatz, den die Bundes­re­gie­rung verfolgt, sind Milli­ar­den­för­de­rungen für Unter­nehmen, die nach Deut­sch­land kommen, etwa die Chip­her­steller Intel und TSCM. Wie stehen Sie dazu?

Ich glaube nicht, dass dies der richtige Weg ist. Für einzelne Konzerne oder auch Branchen mag das hilfreich sein und ich verstehe auch, dass wir gerade bei Chip­fa­briken von China unab­hängig werden wollen. Unser aller Ziel muss es doch aber sein, dass die Unter­nehmen aus aller Welt in Deut­sch­land inves­tieren wollen! Dazu müssen wir das Problem der Wett­be­werbs­fä­hig­keit des Stand­ortes an der Wurzel packen – und das tun wir nicht, indem wir in einen Subven­ti­ons­wett­be­werb mit den Ameri­ka­nern eintreten. Allen Unter­nehmen muss die Möglich­keit gegeben werden, unter guten Bedin­gungen zu arbeiten.

Eine der Bedin­gungen, die Sie bereits ange­spro­chen haben, sind die hohen Ener­gie­kosten. Wirt­schafts­mi­nister Robert Habeck schlägt einen niedrigen Indus­tri­e­strom­preis vor. Was halten Sie von dieser Idee?

Wir brauchen güns­ti­gere Ener­gie­preise, keine Frage, aber Habecks Mittel allein ist das falsche, wenn ein Indus­tri­e­strom­preis nicht bei den Mittel­ständ­lern und vielen Fami­li­en­un­ter­nehmen unserer Industrie ankommt.

Was wäre denn besser als der Indus­tri­e­strom­preis?

Ein richtiger Hebel ist die Strom­steuer. Das würde schon eine Verän­de­rung bedeuten. Da kann der Staat leicht etwas ändern und sie auf das euro­pä­isch fest­ge­legte Mindestmaß senken. Das würde eine deutliche Verän­de­rung bedeuten, denn die deutsche Strom­steuer ist 31-mal so hoch wie das Mindestmaß. Mittel- und lang­fristig hilft letztlich nur eine Auswei­tung des Stro­man­ge­bots.

Absehbar soll nun auch noch der CO2-Preis deutlich steigen, eine weitere Belastung für viele Firmen. Die Regierung will damit den Klima- und Trans­for­ma­ti­ons­fonds finan­zieren. Ist das Ihrer Meinung nach die richtige Abwägung?

Klima­schutz ist wichtig, keine Frage. Aber aktuell halte ich eine zusätz­liche Belastung der Industrie für den falschen Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Der grüne Teil der Ampel­ko­a­li­tion denkt da zu ideo­lo­gisch, davon müssen wir weg und statt­dessen prag­ma­ti­sche Lösungen finden.

Wenn Ihnen Klima­schutz wichtig ist, warum ist der CO2-Preis – ein markt­wirt­schaft­li­ches Instru­ment – dann grüne Ideologie?

Kein Unter­nehmer disku­tiert mehr darüber, dass etwas für den Klima­schutz getan werden muss. Und wenn die Ampel­ko­a­li­tion dies über den CO2-Preis machen möchte, dann aber bitte auch konse­quent. Dann müssen alle anderen Auflagen und Instru­mente gestri­chen werden.

Wie meinen Sie das?

Wenn der CO2-Preis nur obendrauf kommt, ist es eine als Instru­ment getarnte Zusatz­steuer. Und die Politik soll bitte Abschied davon nehmen, festlegen zu wollen, welche Produkte am Ende des Struk­tur­wan­dels übrig­bleiben sollen. Das entscheiden nämlich unsere Kunden weltweit. Wenn aber der Staat vorschreiben will, wie die Unter­nehmen diese Ziele erreichen sollen, dann empfinde ich das als tiefes Miss­trauen. Das stört mich, denn in der Sozialen Markt­wirt­schaft herrscht schließ­lich Freiheit des Marktes verbunden mit einem sozialen Ausgleich.

Neben der teuren Energie blicken viele Unter­nehmer vor allem wegen des Fach­kräf­teman­gels besorgt in die Zukunft. Dabei verschenkt Deut­sch­land viel Potenzial: 50.000 junge Menschen verlassen jährlich ohne Abschluss die Schule, viele Mütter bleiben daheim oder arbeiten in Teilzeit, weil es keine Kitaplätze gibt. Wie lassen sich diese Menschen für den Arbeits­markt gewinnen?

Was die jährlich 50.000 jungen Menschen ohne Schul­ab­schluss angeht, ist die Politik in der Pflicht. Was die Betreuung angeht, braucht es ein höheres Maß an Flexi­bi­lität. Die Corona-Krise hat ja gezeigt, dass das geht. Konkret: Mehr Home­of­fice ist häufig möglich. Das hilft am Ende auch Eltern, die kleine Kinder zu Hause haben und ihre Arbeits­zeit damit besser einteilen und so leichter am Arbeits­leben teil­nehmen können. Und das wiederum ist nicht nur für die Wirt­schaft wichtig, sondern auch für die einzelnen Menschen selbst.

Warum?

Arbeit ist soziale Teilhabe, sie kann sehr erfüllend sein. Wir müssen die Menschen dazu bringen, mehr zu arbeiten. Sonst riskieren wir nicht nur unseren Wohlstand, sondern auch die Zufrie­den­heit der Gesell­schaft.

Experten sagen: Dafür brauchen wir auch mehr Fach­kräfte aus dem Ausland. Zugleich scheinen ange­sichts des AfD-Höhen­flugs immer mehr Deutsche gegen mehr Zuwan­de­rung zu sein. Wie passt das zusammen?

Da müssen wir sauber trennen. Für mich hat der enorme Zuwachs der AfD vor allem mit der schlechten Politik der Ampel­re­gie­rung zu tun und weniger mit dem diffusen Gefühl, dass zu viele Menschen aus dem Ausland zu uns kommen. Die AfD ist für meine Begriffe vor allem eine Protest­partei. Mein Eindruck ist, dass die aller­meisten durchaus wissen, dass es ohne Fach­kräfte-Zuwan­de­rung nicht gehen wird – zumal, wenn wir parallel Debatten darüber führen, dass manche Leute sogar eher weniger arbeiten wollen als bislang.

Sie sprechen die Diskus­sion um die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohn­aus­gleich an.

Weniger arbeiten fürs gleiche Geld? Das geht nicht. So machen wir unseren Standort nicht stark, gerade auch wegen des großen Fach­kräf­te­pro­blems. Tatsäch­lich brauchen wir das Gegenteil: Die Menschen müssen wieder mehr arbeiten. Und übrigens auch länger, so wie es jüngst die Wirt­schafts­weise Veronika Grimm vorge­schlagen hat, …

… die dafür plädiert, das Renten­ein­tritts­alter an die Lebens­er­war­tung zu koppeln.

Ja. Das ist ein sehr guter Vorstoß. Andere Länder machen das schon längst. Und auch wir werden nur so unseren Wohlstand dauerhaft sichern.

Ist das Ihrer Ansicht nach der einzige Hebel, um das Renten­system zu retten?

Es ist jeden­falls der wich­tigste. Ich habe es schon öfter gesagt: Mittel­fristig muss das Renten­ein­tritts­alter an die steigende Lebens­er­war­tung angepasst werden. Zumindest in den aller­meisten Berufen.

Was heißt „mittel­fristig“?

Ich denke, dass wir um diese Anhebung in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht herum­kommen.

Erschienen am 17. August 2023.