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Es wird eine absolute Richtungswahl

Schwerste Wirt­schafts­krise

Interview von Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf mit der WELT:

In fünf Wochen ist Bundes­tags­wahl. Wie elek­tri­siert sind Sie bislang vom Wahlkampf?

Das wird eine absolute Rich­tungs­wahl. Das Land ist in der schwersten Wirt­schafts­krise seit 75 Jahren. Wir brauchen mehrere Jahre Wachstum von zwei­ein­halb bis drei Prozent, um wieder den Wachs­tums­pfad zu erreichen, den wir bis 2018 hatten. Ehrlich gesagt: Die deutsche Wirt­schaft ist in einer drama­ti­schen Lage. Die FDP hat das als erstes erkannt. Das Wirt­schafts­wende-Papier von Christian Lindner trifft es auf den Punkt. Es könnte eine Blaupause sein für eine neue Regierung. Deswegen hoffe ich, dass die FDP sich berappelt, ins Parlament kommt und Teil der neuen Regierung wird.

Eine eher brüchige Hoffnung.

Um es klar zu sagen: Wenn eine neue Koalition keinen Poli­tik­wechsel hinbe­kommt, der uns wieder auf die Spur bringt, erwarte ich, dass wir in vier Jahren eine extrem starke AfD mit viel­leicht 30 oder 35 Prozent haben.

Denken Sie, dass die anderen Parteien auf den Wirt­schafts­kurs der FDP umschwenken werden?

Unnötige Gesetze wie das Liefer­ket­ten­ge­setz oder die Daten­schutz­grund­ver­ord­nung müssen in Null­kom­ma­nichts weg. Wir geben Geld aus ohne Ende, 70 Milli­arden Euro in der deutschen Industrie nur für Büro­kratie. Auch eine Unter­neh­mens­steu­er­re­form, nied­ri­gere Netzent­gelte und die Deckelung der Sozi­a­l­ver­si­che­rungs­bei­träge auf 40 Prozent sind über­fällig. Arbeit muss sich wieder mehr lohnen. Nur fehlt mir der Glaube, dass eine Koalition unter Betei­li­gung von SPD das umsetzt. Und mit den Grünen wird es gleich zweimal schwerer, sie sind unglaub­lich ideo­lo­gisch geprägt.

Die SPD hat im Zuge des Wahl­kampfs die Bezugs­zeit des Kurz­a­r­bei­ter­gelds auf zwei Jahre verdop­pelt. Ist das der richtige Weg?

Ich halte es für richtig. Wir haben mit dem Kurz­a­r­bei­ter­geld gute Erfah­rungen gemacht in den vorhe­rigen Krisen. Trotzdem ist es ein takti­sches Manöver des Kanzlers. Noch im Sommer hat Scholz sich hinge­stellt und gesagt, wir hätten keine Wirt­schafts­krise.

Die Entschei­dung zur Verdopp­lung wurde gegen den Rat vieler Experten getroffen. Sebastian Dettmer beispiels­weise, Chef von Stepstone (gehört wie WELT AM SONNTAG zu Axel Springer), sagt, man halte damit teilweise sterbende Unter­nehmen künstlich am Leben.

Das sehe ich anders. Denn es gibt viele Unter­nehmen, die Beschäf­tigte halten wollen und parallel dazu Trans­for­ma­ti­ons­pro­gramme aufsetzen und den Menschen Möglich­keiten anbieten, sich weiter­zu­bilden, sich zu verändern und in andere Bereiche zu gehen, ohne arbeitslos zu werden.

Dazu gibt es aber keinerlei Verpflich­tung. Findet das tatsäch­lich statt?

Der Sinn von Kurz­a­r­beit ist es ja, konjunk­tu­relle Dellen zu über­stehen, ohne Stellen abbauen zu müssen, aber nicht den notwen­digen Struk­tur­wandel zu verschleppen. Die IG Metall will Jobwechsel über soge­nannte Dreh­scheiben-Modelle ermög­li­chen – aller­dings nur innerhalb der Branche, um die Einkommen abzu­si­chern. Das wird nicht funk­tio­nieren. Die Industrie wird in den nächsten fünf Jahren noch deutlich mehr Arbeits­plätze verlieren. Schon jetzt ist der Stel­le­n­abbau real, seit zehn Monaten in Folge. Aktuell arbeiten in der Metall- und Elek­tro­in­dus­trie noch 3,91 Millionen Beschäf­tigte, gleich­zeitig zählt die Bunde­s­agentur für Arbeit 157.000 Arbeits­lose mit quali­fi­zierten Metall- und Elek­trobe­rufen. In anderen Bereichen aber herrscht weiterhin massiver Perso­nal­mangel Arbeits­markt­dreh­scheiben funk­tio­nieren nur, wenn sie bran­che­n­offen gestaltet sind.

Wie realis­tisch ist es, dass Zehn­tau­sende Metall­a­r­beiter plötzlich Pfleger werden oder zu ganz anderen Löhnen in der Gastro­nomie arbeiten?

Einen 55-jährigen Metall­a­r­beiter werden wir eher nicht dazu bringen, dass er auf Alten­pfleger umschult. Und die jungen Leute mit Ende 20 oder Anfang 30 müssen wir quali­fi­zieren, denn in bestimmten M+E-Berufs­gruppen gibt es noch 130.000 offene Stellen und insgesamt 12.000 unbe­setzte Ausbil­dungs­stellen. In MINT-Berufen allgemein gibt es trotz Rezession und Struk­tur­krise sogar 185.000 Stellen, für die es keine passenden Bewerber in Deut­sch­land gibt.
Es ist eine Frage der Vermitt­lung, wenn man sagt: in deinem jetzigen Bereich hast du viel­leicht noch eine Zukunft von drei oder vier Jahren. Wenn du in einen anderen Bereich wechselst, verdienst du zwar weniger, hast aber bessere Entwick­lungs­per­spek­tiven.

Die Politik verspricht, dass durch Kurz­a­r­beit die Beschäf­ti­gung gesichert werden kann. Sie sagen aber, dass ein Teil der Mita­r­beiter keine Perspek­tive mehr hat?

Die Beschäf­ti­gung in der Metall­in­dus­trie ist in den Jahren 2023 und 2024 gesunken, das wird sich ohne eine Wirt­schafts­wende auch 2025 fort­s­etzen. Wir sind bei einer Auftrags­aus­las­tung von durch­schnitt­lich 75 Prozent. Das heißt, wir können die Arbeits­plätze nicht erhalten. Dafür reicht der Umsatz nicht aus. Also müssen wir an der Kosten­schraube drehen.

Wenn Volks­wagen jeden vierten Arbeits­platz in Deut­sch­land streicht und bei Zulie­fe­rern wie Bosch und ZF Zehn­tau­sende Jobs wegfallen: Was bleibt noch übrig von der deutschen Industrie?

Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf. Sehr viele Unter­nehmen inves­tieren nicht mehr in Deut­sch­land, bauen hier Arbeits­plätze und Produk­tion ab und statt­dessen im Ausland auf. Volks­wagen wird, denke ich, auch in fünf Jahren noch zwischen neun und zehn Millionen Autos pro Jahr bauen – aber in anderen Ländern. Es ist die Aufgabe der Politik, attrak­tive Rahmen­be­din­gungen zu schaffen, damit deutsche und auslän­di­sche Unter­nehmen hier inves­tieren und Arbeits­plätze erhalten. Wir haben mit der IG Metall einen Tarif­ver­trag abge­schlossen, der den Standort stärkt. Es gibt darin Raum für indi­vi­du­elle Rege­lungen, mit denen Unter­nehmen, denen schlecht geht, Perso­nal­kosten redu­zieren können. Den Mita­r­bei­tern ist es wichtig, dass sie ihren Arbeits­platz behalten. Die Verän­de­rungs­be­reit­schaft und die Mobi­li­täts­be­reit­schaft der Menschen haben aus meiner Sicht sehr stark abge­nommen. Die meisten wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Es wird aber Verän­de­rungen geben.

Ein wesent­li­cher Punkt bei den Kosten sind die Lohn­ne­ben­kosten. Robert Habeck hat vorge­schlagen, Sozi­a­l­ab­gaben auch auf Kapi­tal­ein­künfte zu erheben. Dadurch würden die Kosten für die Unter­nehmen womöglich sinken. Finden Sie das gut?

Dieser Vorschlag ist aber­witzig. Man muss die Sozi­a­l­ab­gaben insgesamt senken. Also nicht nach neuen Einnah­me­quellen zusätz­lich zu einer Abga­ben­quote von 43 Prozent suchen, sondern die Belastung für Arbeit­nehmer und Arbeit­geber auf 40 Prozent verrin­gern. Der logische Ansatz­punkt bei den Sozi­a­l­ab­gaben ist der Lohn, weil die Menschen kran­ken­ver­si­chert sind, für Rente und Pflege einzahlen. Mir fehlt die Fantasie, wie man diese Logik auf Kapi­tal­er­träge über­tragen soll.

Welche Sozi­al­leis­tungen sollen denn konkret einge­schränkt werden?

Man kann im Verwal­tungs­be­reich sparen. Wenn die Sozi­a­l­ver­si­che­rungs­träger besser zusam­me­n­a­r­beiten und zum Beispiel Daten mitein­ander abglei­chen würden, können sie massiv Kosten einsparen. Perso­nal­struktur und -umfang ist auch ein wichtiger Punkt, in der Agentur für Arbeit ist viel noch verkrustet und büro­kra­tisch. Künftig kann man auch vieles über künst­liche Intel­li­genz abwickeln und wird weniger Leute brauchen.

Aber das reicht doch nicht, um den Beitrags­an­stieg zu stoppen.

Wenn es nicht reicht, wird der Staat eintreten müssen. Und zwar nicht mit höheren Steuern, sondern indem man sich die gesamten staat­li­chen Ausgaben ansieht. Als Vorstands­chef hatte ich meinen Bereichs­lei­tern genaue Vorgaben gemacht, wie viele Millionen sie jeweils einsparen müssen. So sollte es auch der Bundes­kanzler bei seinen Ministern machen. Die Ampel­ko­a­li­tion hat in ihren drei Jahren allein in den Bundes­mi­nis­te­rien und im Kanz­le­ramt mehr als 2000 neue Mita­r­beiter einge­stellt. Wenn die nötig waren, stellt sich die Frage, wie die Regierung vorher funk­tio­niert hat.

Wo würden Sie denn sparen?

Wir haben einen total aufge­blähten Sozi­a­letat. Allein für Bürger­geld geben wir über 37 Milli­arden Euro aus. Da stelle ich mir die Frage, ob das sein muss. Gerhard Schröder hat mit der Agenda 2010 massiv Sozi­a­l­aus­gaben einge­spart. Jetzt sind wir wieder in einer ganz ähnlichen Situation wie damals. Der einzige Unter­schied ist, dass es damals fünf Millionen Arbeits­lose gab. Wir brauchen eine komplette Reform der Sozi­al­haus­halte. Ich glaube auch, dass wir viel im Bereich auch Entwick­lungs­hilfe einsparen können. Indien fliegt zum Mond – wieso sollten wir Indien Entwick­lungs­hilfe zahlen?

Das Einspa­r­po­ten­zial beim Bürger­geld reicht doch bei weitem nicht, um den Inves­ti­ti­ons­stau aufzu­wiegen.

Es gibt sicher noch viele andere Bereiche, in denen man sparen kann. Die Steu­er­ein­nahmen haben sich zwischen 2015 und 2024 fast verdop­pelt. Das zeigt doch, dass Deut­sch­land ein Ausgaben- und kein Einnah­men­pro­blem hat. Manchmal fehlt schlicht die Bereit­schaft zum Sparen. Die muss ich als Chef aber einfor­dern, wenn gespart werden muss.

Auch der Kran­ken­stand wird zum Politikum. Deut­sch­land liegt über dem euro­pä­i­schen Schnitt bei den Fehltagen. Was wäre Ihre Lösung, sind Sie für Karenz­tage?

Das hatten wir schon einmal, und es wurde dann wieder abge­schafft. Damals sollten die Karenz­tage das Problem der Fehl­zeiten am Freitag und Montag lösen – da sollte es kein Geld mehr geben. Das Problem gibt es immer noch, auch an Brück­en­tagen. Aber ich glaube, man muss das diffe­ren­ziert betrachten, um nicht die Falschen zu treffen.

Sie haben vorhin die Wachs­tums­zahlen erwähnt. Ein grund­sätz­li­ches Problem dabei ist, dass die Produk­ti­vität nicht steigt in Deut­sch­land und uns die USA abgehängt haben, weil dort viel mehr in KI und Robotik inves­tiert wird. Wie könnte man die Produk­ti­vität wieder steigern?

Die Wirt­schaft und der Staat müssen massiv in die Digi­ta­li­sie­rung inves­tieren. Die Betriebe sind zum Teil digi­ta­li­siert, brauchen jetzt aber viel mehr KI. Viele Arbeits­schritte, die heute von Menschen durch­ge­führt werden, können bereits von KI über­nommen, das gilt in der Produk­tion und in der Verwal­tung. Beim Vergleich mit den USA muss man sich aber auch die Ausgangs­lage ansehen. Die Auto­ma­ti­sie­rung und Effizienz von Fabriken in den USA ist deutlich schlechter als in Deut­sch­land. Das Potenzial für eine Stei­ge­rung der Produk­ti­vität ist dort deswegen größer, weil deutsche Unter­nehmen ihre Prozesse schon sehr effizient gestaltet haben. Gerade in der Metall- und Elek­tro­in­dus­trie gibt es viele Bereiche, die nicht mehr effi­zi­enter werden können, weil sie es schon sind.