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„Es würden mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze zur Disposition stehen.“

Lage in der Metall- und Elektro-Industrie

Wohlstandverluste und Energiekrise, die Weltfremdheit der IG Metall und notwendige politische Reformen: Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf fürchtet im Gespräch mit der WELT am Sonntag einen harten Winter und ein schwieriges nächstes Jahr:

Herr Wolf, Deut­sch­land befindet sich in einer Ener­gie­krise, wie groß ist Ihre Angst, dass wir im Winter zu wenig Gas haben werden?

Die Sorge ist sehr groß. Die Gaslie­fe­rungen aus Russland wurden ja schon reduziert. Putin ist ein Stratege, der wird das Gas weiter drosseln, wenn es uns im Herbst und Winter härter trifft.

Wie sparen Sie in der Metall- und Elektro-Industrie jetzt schon Energie?

Wir sparen, wo es geht und überlegen, wie wir im Herbst noch mehr sparen können. Wenn wir es geschickt machen, können wir etwa zehn Prozent unseres Verbrauchs einsparen. Es gibt aber Bereiche, in denen kann man nicht von heute auf morgen auf andere Ener­gie­träger umstellen. Wir sind in unserer Industrie schon sehr abhängig vom Gas.

Wo können Sie konkret sparen?

Wir versuchen, die Tempe­ratur in den Büros abzu­senken, aber da gibt es die Arbeits­s­tät­ten­ver­ord­nung, die uns vorschreibt, dass wir nicht unter 20 Grad gehen dürfen. Man könnte auch bei 18 Grad mit einem Pullover mehr arbeiten. Dafür muss die Politik jetzt aber schnell die Arbeits­s­tät­ten­ver­ord­nung ändern.

Im Notfall soll die Bundes­netz­agentur entscheiden, wer noch Gas bekommt und wer nicht. Halten Sie das für richtig?

Sie hat nun mal diese Aufgabe, und für die Vertei­lung gibt es auch Regeln: Es gibt Gaskunden erster und zweiter Klasse. Wir als Industrie sind Kunden zweiter Klasse, wir kommen ganz am Ende der Nahrungs­kette. Der Gesetz­geber muss der Bundes­netz­agentur Richt­li­nien geben, damit sie das Gas anders verteilen und die Industrie am Laufen halten kann. Daran hängen sehr, sehr viele Arbeits­plätze.

Das hieße: frieren für Arbeits­plätze. Halten Sie das für vermit­telbar?

Man friert bei 18 Grad nicht. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die haben ganz andere Tempe­ra­turen auszu­halten im Winter. Unser Wohl­stands­ni­veau halten wir nur mit einer guten und ausge­las­teten Indus­trie­pro­duk­tion. Die Metall- und Elektro-Industrie ist das Rückgrat des Wohl­stands in diesem Land. Wenn wir hart getroffen werden, trifft das auch die Menschen.

Wie viel Arbeits­plätze stünden auf dem Spiel, wenn Ihre Industrie nicht mehr genug Gas bekommt?

Das ist schwer zu sagen. Wenn es zu massiven Einschrän­kungen käme, würden mehrere Hundert­tau­send Arbeits­plätze zur Dispo­si­tion stehen.

Könnte man diese Arbeits­plätze mit Kurz­a­r­beit retten?

In unserer Industrie gibt es viele Betriebe, denen es nicht gut geht. Wir haben extrem gestie­gene Mate­ri­al­kosten, Strom und Gas haben sich massiv verteuert, wir haben Störungen in der Liefer­kette, den Halb­lei­ter­mangel, die Rahmen­be­din­gungen sind jetzt schon so schwierig, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass diese Unter­nehmen einen Gasmangel überleben können. Ich rechne in diesem Fall mit einer massiven Insol­ven­z­welle. Dann bringt die Kurz­a­r­beit auch nichts, dann sind die Arbeits­plätze weg.

Muss der Staat einspringen und die Unter­nehmen retten?

An der einen oder anderen Stelle wird er das tun müssen, weil es in der Liefer­kette um system­re­le­vante Unter­nehmen geht. Auch Kunden dieser Unter­nehmen müssen sich überlegen, ob sie einspringen und helfen. Die Lage in der Auto­mo­bil­in­dus­trie ist schon durch den Halb­lei­ter­mangel und den Ukraine-Krieg schwierig, wenn jetzt noch Zulie­ferer ausfallen, haben wir ein richtig großes Problem.

Politisch werden verschie­dene Maßnahmen disku­tiert, um den Gasmangel noch abzu­wenden oder zumindest abzu­dämpfen. Müssen die Lauf­zeiten der Atom­kraft­werke verlän­gert werden?

Hundert­pro­zentig! 15 Prozent unseres Gases wird zur Strom­er­zeu­gung genutzt, das macht doch überhaupt keinen Sinn. Wenn wir die Atomkraft nutzen, um Strom zu produ­zieren, können wir Gas einsparen. Darüber hinaus brauchen wir neue, kompakte Atom­kraft­werke, weil der Strom­bedarf in Zukunft steigen wird. Wenn wir alle elek­trisch fahren wollen, haben wir einen massiven zusätz­li­chen Strom­bedarf, der nicht nur aus rege­ne­ra­tiven Energien gedeckt werden kann. Die EU hat Atomkraft als grüne Energie einge­stuft, und wir sollten uns nicht wieder abhängig machen von anderen Staaten, indem wir den Atomstrom teuer aus Frank­reich oder anderen Ländern einkaufen.

Bislang spüren wir die Ener­gie­krise vor allem durch höhere Preise. Wie hart trifft das die Unter­nehmen Ihrer Branche?

Wir haben enorme Kosten­stei­ge­rungen von 15 bis 20 Prozent. Das können viele Unter­nehmen nicht einfach eins zu eins an ihre Kunden weiter­geben. Wir sehen da auch keine Entspan­nung – im Gegenteil. Durch die Gasumlage werden die Preise weiter steigen. In der Ener­gieb­ranche sollte man prüfen, ob man nicht effi­zi­enter werden kann, sodass die Preiss­tei­ge­rungen nicht einfach per Umlage an die Kunden weiter­ge­geben werden müssen.

Die gestie­genen Ener­gie­kosten treffen auch die Arbeit­nehmer, die Inflation wird in diesem Jahr inzwi­schen auf bis zu 7,9 Prozent geschätzt. Die IG Metall fordert acht Prozent mehr Lohn, ist das dann nicht sogar eine moderate Forderung?

Die Forderung fällt völlig aus der Zeit und zeugt von einer gewissen Welt­fremd­heit. Das Lohn­ni­veau ist in der Metall- und Elektro-Industrie schon extrem hoch, wir haben hier in Baden-Würt­tem­berg ein Durch­schnitt­s­ein­kommen über alle Tarif­gruppen hinweg von 72.000 Euro. Das kann halt nicht immer noch weiter­wachsen – schon gar nicht in dieser Lage.

Wie viel Prozent wollen Sie denn anbieten?

Wenn wir im Herbst in eine Gasman­gel­lage kommen, fällt das genau in unsere Tarif­runde. Dann wird es nicht möglich sein, die Firmen der Metall- und Elektro-Industrie mit Lohn­er­hö­hungen weiter zu belasten. Die IG Metall verletzt auch ihre eigene Logik: Bei null Prozent Inflation hat sie auch zwei Prozent als Infla­ti­ons­aus­gleich gefordert, angeblich um die Zielin­fla­tion von zwei Prozent zu erreichen. Wenn die tatsäch­liche Inflation nun höher liegt, dann müsste sie logi­scher­weise weniger fordern.

Sie wollen wirklich eine Nullrunde durch­setzen, und Ihre Mita­r­beiter müssen ihre höheren Kosten allein tragen?

In einer Gasman­gel­lage hätten wir kein Wachstum, das man verteilen könnte. Die große Mehrheit der Menschen, mit denen ich spreche, sagt: Der Arbeits­platz ist das Wich­tigste. Für uns alle wird alles teurer – für Mita­r­beiter und Unter­nehmen. Einen Teil davon müssen die Mita­r­beiter selbst tragen. Jetzt geht es erst mal darum, den Großteil der Unter­nehmen durch diese Krise zu führen, so dass wir auch lang­fristig eine erfolg­reiche Indus­trie­na­tion sind.

In anderen Branchen gibt es hohe Absch­lüsse. Das Lufthansa-Boden­per­sonal etwa bekommt bis zu 19 Prozent mehr. Ökonomen warnen vor einer Lohn-Preis-Spirale.

Ich teile die Angst. Drohende Preis­ex­plo­si­onen sind ein zweites Argument gegen höhere Löhne.

Was ist eigent­lich mit der Konzer­tierten Aktion der Bundes­re­gie­rung, die genau das verhin­dern soll? Ist sie geschei­tert?

Sie ist ja noch im Gange und wird im September fort­ge­setzt. Jeden­falls werden viele Menschen aus allen Wolken fallen, wenn bald die Neben­kos­te­n­ab­rech­nung kommt. Deshalb ist die Konzer­tierte Aktion wichtig. Ich teile die Ansicht von Bundes­kanzler Scholz, dass steuer- und sozi­a­l­ab­ga­ben­freie Einma­l­zah­lungen der richtige Weg sind, um Arbeit­nehmer zu entlasten. Denn dann kommt das Brutto direkt an.

Eine andere Entlas­tung, die Finanz­mi­nister Lindner plant, ist die Abmil­de­rung der kalten Progres­sion. Was halten Sie davon?

Für mich ist schon lange klar, dass sie abge­schafft gehört. Schon in der Vergan­gen­heit haben Menschen von Gehalts­er­hö­hungen kaum profi­tiert, weil sie in die nächste Progres­si­ons­s­tufe gerutscht sind.

Auch das 9-Euro-Ticket und der Tankra­batt sollen derzeit die Menschen entlasten und dämpfen zusätz­lich die Inflation. Sollten diese Maßnahmen verlän­gert werden?

Beides schafft nur kurz­fristig Entlas­tungen. Das 9-Euro-Ticket ist schön, aber es löst nicht die großen Probleme des Landes.

Also sollte beides auslaufen?

Den Tankra­batt zu verlän­gern, halte ich für sinnvoll. Auch eine daue­r­hafte Senkung der Mine­ra­l­öl­steuer würde helfen – der Effekt für Verbrau­cher wäre der gleiche. Gerade in der Metall­in­dus­trie gibt es viele Pendler, sie treffen die hohen Sprit­preise drama­tisch. Auf die Wochen­end­fahrt von Bad Urach an den Tegernsee kann man verzichten, aber beim Weg zur Arbeit bleibt keine Wahl. Die Bundes­re­gie­rung muss beim Sprit weiterhin für Entlas­tungen sorgen.

Teile der Ampel fordern eine Über­ge­winn­steuer, um die Entlas­tungen zu finan­zieren. Halten Sie eine solche Steuer für umsetzbar?

Nein, damit würde man zum Teil nur Einmal­ef­fekte besteuern. Ein Beispiel aus der Metall­in­dus­trie: Wegen der Chipkrise werden derzeit mehr große Fahrzeuge produ­ziert, mit denen die Unter­nehmen mehr Gewinn machen. Das ist aber eine Ausnah­me­si­tua­tion, die sich wieder ändern wird. Bei denen mehr abzu­schöpfen, die derzeit noch ganz gut verdienen, ist der falschen Weg.

Die Sorge in der Politik vor Massen­pro­testen durch die Ener­gie­krise ist groß. Teilen Sie die Befürch­tungen?

Fest steht, es gibt Menschen, die auf die Straße gehen werden. Die Frage ist, wie man sie anspricht – eben nicht, indem man hier und da etwas verteilt. Den Menschen muss klar werden: Es beginnt eine Zeiten­wende – auch im Privaten. Der Wohl­stands­ver­lust wird kommen, und er wird nicht über staat­liche Mittel ausge­gli­chen werden können.

Ihrer Ansicht nach müssen sich viele Deutsche damit abfinden, künftig nicht mehr in den Urlaub fahren zu können?

Wir alle werden den Gürtel enger schnallen müssen.

Gleich­zeitig fordern Sie auch noch die Rente mit 70. Kommt diese Diskus­sion nicht zur Unzeit, wenn ohnehin viele Menschen Wohl­stands­ver­luste zu verkraften haben?

Die Renten­kassen sind massiv belastet – jetzt sind sie ziemlich leer. Der Gene­ra­ti­o­nen­vertag wird so nicht mehr funk­tio­nieren.

In Ihren Betrieben müssen viele Arbeiter schleppen, mit den Händen über dem Kopf arbeiten und sind Lärm und Gift­stoffen ausge­setzt. Und das soll man bis 70 machen?

In einigen Bereichen ist das Arbeiten bis 70 problemlos möglich. Anderswo wird es wegen der starken Belastung schwierig: Ein Stra­ßen­bauer wird nicht bis 70 arbeiten, sondern andere Tätig­keiten über­nehmen. Wir werden eine hohe Zahl an Arbeits­kräften verlieren, wenn in den nächsten Jahren die Baby­boomer in Rente gehen. Die Politik muss ein solides Finan­zie­rungs­mo­dell entwi­ckeln, das zumindest eine Grund­rente garan­tiert. Den Jungen in meiner Firma sage ich immer: Baut euch etwas auf, sorgt privat fürs Alter vor.

Wie soll das zusam­men­passen? Nullrunde und Wohl­stands­ver­lust, aber die Leute sollen fürs Alter sparen?

Wir erleben gerade eine nie dage­we­sene Krise. Aber wir werden da auch wieder raus­kommen, 2025 oder viel­leicht schon 2024, wenn es gut läuft. Dann wird es auch wieder etwas zu verteilen geben.

Ihre Branche klagt wie viele andere über Fach­kräf­temangel. Wie wollen Sie mit all diesen miesen Aussichten neue Arbeits­kräfte gewinnen?

Zunächst müssen wir uns darum kümmern, Menschen besser auszu­bilden. Das Land hat zu viele junge Menschen ohne Schul­ab­schluss und Ausbil­dung. Außerdem brauchen wir mehr Fach­kräfte von außen. Menschen, die zu uns kommen wollen und quali­fi­ziert sind, müssen sich darauf verlassen können, bleiben zu dürfen, statt alle zwei Jahre ihre Aufent­halts­ge­neh­mi­gungen neu zu bean­tragen. In den nächsten zehn Jahren werden wir allein in der Metall- und Elektro-Industrie massiv Zuwan­derer brauchen.

Kann das geplante Bürger­geld helfen, neue Arbeits­kräfte zu gewinnen?

Das Bürger­geld wird das Problem des Mangels nicht lösen. Ich drücke es mal so aus: Es gibt Menschen in unserer Gesell­schaft, die ein eher ambi­va­lentes Verhältnis zur Arbeit haben. Wenn sie nun mit einer Grund­ver­sor­gung ausge­stattet werden und keine Sank­ti­onen zu befürchten haben, wenn sie ange­bo­tene Stellen nicht annehmen, gibt es keinerlei Moti­va­tion mehr, sich in die Arbeits­welt einzu­glie­dern.

Sie zeichnen ein pessi­mis­ti­sches Bild, überall Krisen und Probleme. Was ist Ihre Perspek­tive, wann es aufwärts geht?

Auch 2023 wird schwierig werden. Es hängt aber auch davon ab, wie sich China verhält. Die Zero-Covid-Politik hat uns hart getroffen. Wenn Corona durch und der unsäg­liche Krieg in der Ukraine zu Ende ist, folgt eine Wachs­tums­phase. Ich erwarte, dass es ab 2024 Wachs­tums­zahlen gibt.

Das Interview führten Jan Klauth und Philipp Vetter, WELT.