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„Jeden Monat gehen 10.000 Industriearbeitsplätze flöten“

Rücktritt

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf im Interview mit dem Handelsblatt zur Lage der Metall- und Elektro-Industrie und seiner persönlichen Zukunft:

Herr Wolf, die Bundes­re­gie­rung erwartet für das kommende Jahr wieder ein leichtes Wachstum von 1,3 Prozent. Sind wir aus dem Gröbsten raus?

Absolut nicht – und ich glaube auch nicht, dass die Wirt­schaft nächstes Jahr um 1,3 Prozent wachsen wird. Die Produk­tion der Metall- und Elektro-Industrie liegt immer noch um 16 Prozent unter dem Niveau des Jahres 2018, während die Kosten­si­tua­tion der Unter­nehmen sich weiter verschlech­tert. Die Regierung muss jetzt mal in die Puschen kommen und Dinge grund­le­gend verändern in diesem Land. Erste Maßnahmen sind erfolgt, aber in Summe reicht das nicht.

Was zum Beispiel fehlt?

Wir brauchen vernünf­tige Rahmen­be­din­gungen für die Industrie, die uns in den vergan­genen Jahr­zehnten unseren Wohlstand gesichert hat. Die Unter­nehmen in Deutschland geben jährlich zusammen fast 70 Milli­arden Euro aus, nur um Formulare ordnungs­gemäß auszu­füllen. Die Sozi­a­l­ab­gaben sind zu hoch, wie die Strom­preise.

Wirt­schafts­mi­nis­terin Katherina Reiche sagt, sie wolle bis Ende des Jahres mit der EU-Kommis­sion über einen Indus­tri­e­strom­preis verhan­deln.

Das würde extrem helfen. Wir brauchen mehr Tempo und schnell Entlas­tungen, denn uns gehen massiv Arbeits­plätze verloren. Allein in der Metall- und Elektro-Industrie sind seit 2018 eine Vier­tel­mil­lion Jobs abgebaut worden, und jeden Monat gehen 10.000 bis 15.000 Indus­trie­a­r­beits­plätze flöten. Und die kommen vermut­lich nicht wieder.

Die Auto­in­dus­trie leidet besonders. Denken Sie, dass es hilft, wenn Bundes­kanzler Friedrich Merz jetzt das Verbrenner-Aus im Jahr 2035 infrage stellt?

Ja, natürlich, auf jeden Fall. Deutschland steht für zwei Prozent des welt­weiten CO2-Ausstoßes, der Verbrenner in Deutschland macht etwa 0,4 Prozent aus. Statt hier auf Teufel komm raus die letzte Einspa­rung raus­zu­holen, sollten wir fort­s­chritt­liche Umwelt­tech­no­lo­gien entwi­ckeln und nach China, Indien oder in die USA expor­tieren. Denn da fallen die höchsten CO2-Emis­si­onen an. Dabei sollte der Staat helfen.

Denken Sie, dass der Staat weiß, welche Zukunfts­tech­no­lo­gien sich durch­setzen werden?

Nein, wir als Unter­nehmer wissen am besten, was unsere Kunden kaufen wollen und welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit sind. Die Politik sollte uns hier nicht – teilweise ideo­lo­gisch getrieben – einengen und uns keine Vorgaben machen Stichwort Heizungs­ge­setz. Wissen Sie, was passiert, wenn wir 2035 ein Verbrenner-Verbot in Europa bekommen?

Verraten Sie es uns.

Wir haben dann 2033 und 2034 eine Sonder­kon­junktur, weil alle sich noch schnell ein Auto mit Verbren­nungs­motor kaufen, das sie dann aber zehn oder zwölf Jahre fahren. Und ab 2035 wird die Auto­in­dus­trie dann in eine Absatz­krise rutschen.

Haben Sie denn das Gefühl, dass die Politik den Ernst der Lage in der Industrie erkannt hat?

Bundes­kanzler Merz und die Union schon, bei Teilen der SPD bin ich mir da nicht so sicher. Wenn Merz und Vize­kanzler Lars Klingbeil einfach mal durch­re­gieren und sich auf die Verbes­se­rung der Rahmen­be­din­gungen für die deutsche Wirt­schaft konzen­trieren könnten, wäre viel gewonnen.

Wo bremst denn die SPD aus Ihrer Sicht?

Das Thema Sozi­al­staats­re­form wird nicht mit der nötigen Entschlos­sen­heit angepackt, sondern an Kommis­si­onen delegiert. Dabei liegen die Probleme schon so lange auf der Hand. Aber wir haben es uns bequem gemacht im Vertrauen darauf, dass die Russen uns billige Energie verkaufen, die Chinesen unsere Produkte abnehmen und die Ameri­kaner für unsere Sicher­heit sorgen. Aber das funk­tio­niert nicht mehr.

DGB-Chefin Yasmin Fahimi hat gerade scharf eine „neo­li­be­rale Markt­po­litik“ kriti­siert: Die Bundes­re­gie­rung atta­ckiere die hart erar­bei­teten Sozi­al­leis­tungen der Beschäf­tigten und erwarte gleich­zeitig von ihnen, mehr zu arbeiten.

Es ist leider die Wahrheit, dass wir uns wieder mehr anstrengen müssen. In der Vergan­gen­heit wollte der ganz über­wie­gende Teil der Menschen etwas erreichen und Wohlstand haben, also haben sie sich ange­strengt. Das vermisse ich heute. Frau Fahimi hat den Glocken­schlag noch nicht gehört in ihrer Traumwelt. IG-Metall-Chefin Chris­tiane Benner beweist, dass man als Gewerk­schaf­terin auch eine deutlich diffe­ren­zier­tere Sicht­weise an den Tag legen kann.

Freuen Sie sich schon auf die nächste Tarif­runde der Metall- und Elektro-Industrie mit Frau Benner?

Die Freude kann nicht aufkommen, weil ich nicht mehr daran beteiligt sein werde. Denn ich werde bei der nächsten Wahl zum Gesamt­me­tall-Präsi­denten im kommenden Juni nicht mehr antreten und mein Amt auch mit sofor­tiger Wirkung zur Verfügung stellen.

Warum der über­stürzte Abgang?

Es gibt einen alten Spruch, dass man niemals im Laufe eines Rennens die Pferde wechseln soll. Die nächste Metall-Tarif­runde wird sehr heraus­for­dernd werden, auch weil manche in der IG Metall der Meinung sind, dass der letzte Abschluss zu schlecht war für die Gewerk­schaft – obwohl die Lage der Industrie kata­s­tro­phal ist. Und meine Nach­fol­gerin oder mein Nach­folger sollte sich an den Vorbe­rei­tungen von Anfang an betei­ligen können und nicht erst im Juni 2026 einsteigen, wenn ich regulär aus dem Amt scheide.

Bis zur Tarif­runde ist es noch etwas Zeit …

Die Verhand­lungen beginnen bereits im September 2026, aber natürlich gibt es viele Gespräche vor der Tarif­runde. Sie oder er muss ja auch mit einer gewissen Autorität gegenüber der IG Metall auftreten können.

Im Mai hat die Staats­an­walt­schaft Tübingen einen Straf­be­fehl gegen Sie beim Amts­ge­richt Bad Urach beantragt, weil Sie eine Haus­halts­hilfe schwarz beschäf­tigt haben sollen. Hat Ihr Rückzug viel­leicht auch damit zu tun?

Das Verfahren läuft jetzt seit drei Jahren, und ich habe keine Ahnung, wann das abge­schlossen ist. Die Akte liegt nach wie vor beim Amts­ge­richt Bad Urach. Aber es hat bei meiner Entschei­dung keine Rolle gespielt. Schon bei meiner Wieder­wahl 2024 habe ich entschieden, dass diese Amtszeit meine letzte sein würde. Ich mache das ehren­amt­liche Geschäft jetzt seit mehr als 20 Jahren, und es hat mir auch Spaß gemacht. Aber irgend­wann ist es genug.