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„Noch nie haben sich die Risiken so konzentriert wie derzeit“

Konjunk­tu­relle Lage

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf im Gespräch mit der Rhein-Zeitung über die wirtschaftliche Lage der M+E-Industrie, die anstehende Tarifrunde, Spartipps und die Zukunft des Verbrenners:

Herr Dr. Wolf, die deutsche Wirt­schaft kämpft gegen die Folgen von Corona und Ukraine-Krieg. Manche Wirt­schafts­ex­perten sehen uns schon am Rande einer Rezession. Wie beur­teilen Sie die Aussichten für die M+E-Branche?

Eine Rückkehr zum Vorkri­sen­ni­veau 2018 ist derzeit ausge­schlossen. Statt­dessen befürchten wir einen weiteren Einbruch, vor allem, wenn uns das Gas abge­stellt werden sollte. Dabei ist die Situation sehr wider­sprüch­lich. Die Auftrags­bü­cher sind voll. Die Aufträge können aber nicht abge­ar­beitet werden, weil Vorpro­dukte und Rohstoffe nicht da sind. Und wenn wir sie doch bekommen, dann sind sie oft so teuer, dass an den Aufträgen nichts mehr verdient werden würde – und damit ist auch keinem geholfen. Wie die Preise für Energie sich entwi­ckelt haben, hat jeder mitbe­kommen, aber auch die für Eisen und Stahl sind in die Höhe geschossen. Liefer­ketten sind weiterhin gestört. Der russische Angriffs­krieg hat die vorher schon ange­spannte Situation nochmal verschärft.

Viele Verbrau­cher werden bald Schock-Rech­nungen für ihre Gasver­sor­gung erhalten. Bundes­wirt­schafts­mi­nister Robert Habeck rät zu Spar-Dusch­köpfen. Was halten Sie von solchen Sparap­pellen?

Ich finde es generell richtig, die Menschen darauf hinzu­weisen, dass auch jeder Einzelne etwas dazu beitragen kann, die Situation zu entschärfen. Ich gehe aller­dings davon aus, dass Unter­nehmen und Verbrau­cher bei den Ener­gie­preisen schon von selbst sparen, wo es geht.

Und was, wenn ab Juli gar kein Gas mehr aus Russland fließt? Wie stellen Sie sich darauf ein? Müssen Sie gar Arbeits­plätze abbauen, weil die Produk­tion still­steht?

Bei einem Stopp der Gaslie­fe­rungen droht uns eine euro­pa­weite, tiefe Wirt­schafts­krise. Wir müssen mit Produk­ti­ons­un­ter­bre­chungen rechnen, in manchen Branchen sogar mit einem Tota­l­aus­fall – mit allen Folgen für die Unter­nehmen. Liqui­di­täts­eng­pässe, Arbeits­platz­abbau, fehlendes Geld für neue Inves­ti­ti­onen, was insbe­son­dere die Fort­s­chritte beim Struk­tur­wandel gefährdet. Wir setzen daher auf eine wirt­schafts­o­ri­en­tierte Umsetzung des Gas-Notfall­plans.

Viele werfen der Wirt­schaft vor, sich nicht recht­zeitig auf die Krise einge­stellt und den Struk­tur­wandel zu spät oder zu langsam in Angriff genommen zu haben. Lässt sich die Wirt­schaft zu viel Zeit?

Der Struk­tur­wandel ist ein hartes Stück Arbeit: Wir müssen inves­tieren und das Geld dafür erst einmal verdienen, und dann müssen sich die Inves­ti­ti­onen auch lang­fristig rentieren. Es braucht neben Inves­ti­ti­onen in Vorleis­tungen und Produk­ti­ons­s­tätten vor allem tech­no­lo­gi­sches Know-how, also Forschung und Entwick­lung. Da sind wir dran, aber das geht nicht von heute auf morgen. Wie wenig Verständnis die Politik manchmal dafür hat, sehen Sie gerade an der Diskus­sion über die Verbrenner.

Die EU hat gerade beschlossen, den Verbrenner zu verbieten. Ist das nicht richtig, wenn man Klima­schutz will?

Die EU hat beschlossen, dass Verbrenner erlaubt bleiben, wenn man sie klima­neu­tral betreibt. Ich bin sehr froh, dass wir über den E-Fuels-Kompro­miss nun tech­no­lo­gie­offen weiter forschen können. Warten wir doch mal ab, was unsere deutschen Spit­ze­n­in­ge­ni­eure hier noch hinkriegen. Dem Klima ist auf jeden Fall mehr geholfen, wenn beispiels­weise die vielen Pendler in Rheinland-Pfalz ihre Autos in Zukunft mit klima­neu­tralen synthe­ti­schen Kraft­stoffen betanken können, als wenn ein paar gutver­die­nende Groß­stadt­be­wohner sich ein neues Elek­tro­auto kaufen und das mit Kohle­strom aufladen.

Herr Dr. Wolf, in dieser Situation haben Sie ab September in der Metall- und Elektro-Industrie eine Tarif­runde zu führen. Die Gewerk­schaften wollen bis zu 8 Prozent mehr Lohn fordern. Wieviel ist denn aus Ihrer Sicht drin?

Die Unter­nehmen produ­zieren heute noch immer rund 15 Prozent weniger als noch vor der Krise 2018, die Beschäf­tigten in unserer Industrie haben aber in der gleichen Zeit fast 10 Prozent mehr Geld bekommen. Die Unsi­cher­heiten und die unter­schied­liche Lage der Unter­nehmen sind aktuell größer denn je. Noch nie haben sich die Risiken so konzen­triert wie derzeit. Und dabei müssen die Unter­nehmen noch die Kraft sammeln, um in den Struk­tur­wandel zu inves­tieren. Das muss auch die IG Metall zur Kenntnis nehmen.

Also ist wieviel drin? Gar nichts? Die Firmen verdienen doch gut.

Die Branche umfasst rund 26.000 Unter­nehmen. Wer die viel­leicht 100 rauspickt, denen es trotz der Lage gut geht, der würde den Flächen­ta­rif­ver­trag zerstören. Wir müssen der Unsi­cher­heit ebenso Rechnung tragen wie der Tatsache, dass die Lage der einzelnen Unter­nehmen so unter­schied­lich ist. Ich weiß heute noch nicht, wie die Lösung am Ende aussieht. Aber wir haben bislang immer eine Lösung gefunden, und es wird auch diesmal gelingen.

Sind ange­sichts der Inflation nicht höhere Löhne erfor­der­lich?

Die stei­genden Preise sind für Beschäf­tigte und Unter­nehmen ein Problem. Aber: Dagegen etwas zu tun ist vor allem Aufgabe der Euro­pä­i­schen Zentral­bank. Und wenn Preise aufgrund poli­ti­scher Entschei­dungen steigen, kann auch nur die Politik gegen­steuern. In der Tarif­po­litik geht es um die Frage, wie zusätz­lich Geleis­tetes – Stichwort Produk­ti­vi­täts­wachstum – verteilt werden soll.

Der Bundes­kanzler möchte die Inflation am Montag mit einer konzer­tierten Aktion im Bundes­kanz­le­ramt bekämpfen. Eine gute Idee?

Ich halte es für sinnvoll, wenn sich alle an einen Tisch setzen und bespre­chen, was getan werden kann. Das nimmt niemanden aus der Verant­wor­tung, in seinem Zustän­dig­keits­be­reich das Richtige zu tun.

Sie sind also für die vorge­schla­genen Einma­l­zah­lun­gen…?

Einma­l­zah­lungen gehören zum tarif­po­li­ti­schen Instru­men­ten­kasten. Unsere Verhand­lungen beginnen im Herbst, wie eine Einigung am Ende der Verhand­lungen aussehen wird, kann ich heute noch nicht sagen. Und in die Gespräche mit dem Kanzler gehen wir ohne Vorbe­din­gungen.

Thema Fach­kräf­temangel: Brauchen Sie auch Hilfs­kräfte aus der Türkei, wie die Flughäfen?

Auch uns fehlen nicht nur Inge­ni­eure. Wir haben in den vergan­genen Jahren jeweils zehn Prozent der ange­bo­tenen Ausbil­dungs­plätze nicht besetzen können! Und das liegt nicht an der Bezahlung oder dem Willen der Unter­nehmen, sondern schlicht daran, dass es weniger junge Menschen gibt. Um das zu verdeut­li­chen: 2001 haben gut 670.000 junge Menschen die Schulen verlassen. Letztes Jahr waren es nur noch 460.000. Wir müssen alle Register ziehen. Zuwan­de­rung ist dabei ein notwen­diger Baustein, aber löst das Problem nicht alleine.

Sie sind mit dem ganzen Vorstand von Gesamt­me­tall zu Ihrer Mitglie­der­ver­samm­lung heute zu Gast in Koblenz. Was verbindet sie mit unserer Stadt?

Wir sind tradi­ti­o­nell jedes Jahr bei einem unserer Mitglieds­ver­bände zu Gast. In den vergan­genen zwei Jahren fand unsere Mitglie­der­ver­samm­lung coro­na­be­dingt als hybride Veran­stal­tung in Berlin statt. Ich freue mich sehr darüber, dass wir nun wieder alle hier in Koblenz persön­lich vor Ort sein können. Und in der Region gibt es tolle Unter­nehmen mit vielen klugen, enga­gierten Unter­neh­mern im Verband. Ich muss dabei zugeben, die Region nur als Besucher zu kennen.

Sie selbst stellen sich heute zur Wieder­wahl als Gesamt­me­tall-Präsident. Welche Bilanz ziehen sie denn nach Ihren ersten beiden Jahren als M+E-Präsident?

Mitten in eine Pandemie hinein ein solches Amt zu über­nehmen ist schon eine Heraus­for­de­rung. Das wich­tigste ist ja, mit den Menschen zu sprechen, mit den Unter­neh­mern in unseren Gremien, mit der Politik, mit den Gewerk­schaften, mit den Medien. Das geht alles tele­fo­nisch oder am Bild­schirm, aber besser ist es immer, die Gesprächs­partner persön­lich zu treffen. Aber insgesamt sind uns gute Lösungen gelungen: Vor allem sind in den Tarif­runden 2020 und 2021 ange­mes­sene, gute Lösungen gefunden worden.