Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf und Christiane Benner, Erste Vorsitzende der IG Metall, im RND-Doppelinterview über Gründe für den Niedergang der deutschen Wirtschaft und Wege aus der Dauerkrise:
Frau Benner, Herr Wolf, mit fast 4 Millionen Beschäftigten ist die Metall- und Elektro-Industrie die größte Branche des Landes – und das größte Sorgenkind. Acht Quartale in Folge ist die Produktion gesunken. Warum finden ihre Unternehmen keinen Weg aus der Krise?
Benner: Unsere Branchen sind extrem betroffen von der Veränderung in Richtung Klimaneutralität. Die Mobilitätswende etwa trifft die Autoindustrie mit Wucht. Und als wären die Herausforderungen nicht schon groß genug, kommen jetzt auch noch drohende Zollstreitigkeiten und fürchterliche militärische Eskalation hinzu. Das alles führt zu einer massiven Verunsicherung sowohl bei Unternehmen als auch bei Beschäftigten.
Wolf: Die Verunsicherung spüre ich auch. Und da ist es fast egal, ob Sie mit dem Chef eines Großkonzerns oder einem kleinen Mittelständler reden. Wenn Unternehmer unsicher sind, investieren sie nicht. In dieser Hinsicht ist Wirtschaft Psychologie. Das Ergebnis ist die Krise, die wir jetzt erleben.
Ist das nicht Selbstmord aus Angst vor dem Tod? Jeder Unternehmer weiß doch, dass Investitionen von heute die Gewinne von morgen sind.
Wolf: Das gilt nur, wenn die Rahmenbedingungen gut und verlässlich sind. Sind sie es nicht, hält man sein Geld besser zusammen. Oder investiert es in Standorte, für die das gilt. Viele Unternehmen tragen sich mit dem Gedanken der Abwanderung aus Deutschland oder Verlagerung. Allein seit 2023, also nach der Corona-Krise, hat die Metall- und Elektro-Industrie rund 130.000 Arbeitsplätze verloren.
Werden die Stellenstreichungen weitergehen?
Benner: Das wollen und müssen wir verhindern. Sonst würde das bedeuten, dass wir wichtige Teile der industriellen Produktion verlieren. Denn was einmal weg ist, kriegen wir nicht mehr zurück. Und ohne Industrie ist Deutschland ein armes Land.
Wolf: Der Jobabbau hat verschiedene Gründe. Zum Teil wurde Produktion ins Ausland verlagert, zum Teil aber auch Buchhaltung oder Controlling. Das kann man heute auch problemlos zum Beispiel in Ungarn machen. Andere Unternehmen haben 20 oder gar 25 Prozent Umsatzverlust. Die können nicht alle Leute weiter beschäftigen.
In früheren Schwächephasen haben Unternehmen ihre Belegschaften zusammengehalten. Was ist jetzt anders?
Benner: Das geschah während der Finanzmarktkrise. Das war ein temporäres Problem. Wir haben jetzt eine strukturelle Krise. Ich plädiere aber trotzdem dafür, Wege zu finden, wie wir Beschäftigung sichern. Und da sehe ich auch die Unternehmen in der Verantwortung, geradezu in der Pflicht. Die Wirtschaft muss viel stärker in Zukunftsfelder investieren.
Welche Felder meinen Sie?
Benner: Die liegen auf der Hand: Batteriefertigung für Autos, Halbleiterproduktion, Speichertechnik für die Energiewende, Kreislaufwirtschaft. Wenn diese Dinge jetzt mit dem Investitionsprogramm angegangen werden, dann steigt wieder die Stimmung – auch bei den Beschäftigten.
Wolf: Viele Unternehmen würden wieder in Deutschland investieren, wenn die Rahmenbestimmungen stimmen. Aber die stimmen nicht. Wir brauchen als Unternehmer ganz klare und eindeutige Signale von der Bundesregierung.
Der so genannte Investitionsbooster reicht nicht?
Wolf: Das Sofortinvestitionsprogramm ist ein richtiger Anfang. Wichtig ist, dass die verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten sowie die Absenkung der Körperschaftsteuer jetzt schnell beschlossen werden. Noch vor der Sommerpause bitte! Ich appelliere an die Bundesländer, die jetzt vor Einnahmeausfällen warnen, dass sie das Entlastungspaket nicht im Bundesrat blockieren. Eine Hängepartie über den Sommer können wir uns nicht leisten. Die Firmen müssen jetzt ganz schnell wissen, worauf sie sich einstellen können.
Reichen Steuerentlastungen für einen Stimmungsumschwung aus?
Wolf: Ganz sicher nicht. Die Probleme sind vielschichtiger. Die Sozialabgaben sind zu hoch, da fordern wir seit Jahren eine Deckelung bei 40 Prozent. Dann die hohen Energiepreise, die müssen endlich auf ein wettbewerbsfähiges Niveau. Und über Bürokratie haben wir noch gar nicht gesprochen. Da brauchen wir einen massiven Abbau. Es ist gut, dass das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz jetzt abgeschafft wird. Wenn es aber über die EU wieder eingeführt wird, haben wir nichts gewonnen. Deshalb muss auch die europäische Lieferkettenrichtlinie weg.
Das sieht Frau Benner vermutlich anders…
Benner: Ich sehe einiges anders. Die Unternehmen sollen verbesserte Rahmenbedingungen nutzen und nicht nur weiter klagen. Und gerade im wirtschaftlichen Wandel müssen die Beschäftigten auf einen soliden finanzierten und verlässlichen Sozialstaat setzen können. Was das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz angeht: Aus unserer Sicht ist eine faire Lieferkette die Grundvoraussetzung für freien Handel. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
Wolf: Ich bin auch für faire Arbeitsbedingungen und gegen Kinderarbeit. Aber wenn wir glauben, dass wir durch ein Lieferkettengesetz Kinderarbeit und Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt in den Griff bekommen können, dann ist das naiv.
Benner: Das glaubt niemand. Ja, doppelte Berichtspflichten sind zu viel des Guten. Das Anliegen bleibt aber trotzdem richtig. Wir Gewerkschaften haben eine Reihe globaler Rahmenabkommen für Arbeitnehmerrechte mit Großkonzernen abgeschlossen. Diese haben auch kein Problem mit sozialen Berichtspflichten, weil sie schon vorher alle Standards eingehalten haben. Solche freiwilligen Regelungen finde ich gut. Sie sind aber nicht flächendeckend. Deshalb sind gesetzliche Regelungen und Kernarbeitsnormen erforderlich.
Sie haben viel über die Rahmensetzungen durch den Staat geredet, aber sind die Probleme Ihrer Branche nicht hausgemacht? Verbrennungsmotoren haben ein Enddatum, viele Zulieferer werden schlicht nicht mehr gebraucht.
Wolf: Ganz ehrlich: An der aktuellen Situation hat der Staat mit seinen Zielsetzungen doch kräftig mitgewirkt. Ich plädiere für Technologieoffenheit. Denn wir werden 2035 nicht alle mit Elektroautos fahren. Nicht mal in Europa gibt es eine vernünftige Ladeinfrastruktur. Über die USA, Asien und Afrika will ich gar nicht reden. Das Verbrenner-Verbot auf EU-Ebene muss deshalb fallen. Die deutsche Fahrzeugindustrie darf ihre global führende Position nicht aufgeben. Wir können noch viele Jahre gutes Geld mit Verbrennungsmotoren verdienen.
Benner: Beim Verbrenner gibt es noch Potenzial. Aber: Die Zukunft fährt elektrisch. Unser eigentliches Problem ist, dass sich deutsche Unternehmen bei der Elektromobilität und der Digitalisierung im Fahrzeug die Butter vom Brot nehmen lassen. Und den Preis bezahlen die Beschäftigten. In China läuft der Umstieg in einem irren Tempo. Die Autobauer dort haben einen technologischen Vorsprung. Den müssen deutsche Unternehmen aufholen, und das geht auch, wenn wir auf unsere Stärken wie die hohe Sicherheit deutscher Fahrzeuge setzen.
Wolf: Die chinesischen Autobauer haben das clever gemacht. Jahrelang haben sie es nicht geschafft, unsere Diesel- und Benzinmotoren zu kopieren, und dann haben sie alles auf die neue Technologie gesetzt. Trotzdem glaube ich, dass es in der chinesischen Oberschicht noch lange eine Nachfrage nach großen, deutschen Autos mit Verbrennungsmotor geben wird. Die sollten wir befriedigen.
Benner: In jedem Fall steckt die Autoindustrie in einer entscheidenden Phase. Eine Durststrecke von einem bis zwei Jahren muss sie überstehen, bevor hoffentlich der Turnaround gelingt. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie gerade den Zulieferern mit Mitteln aus dem Deutschlandfonds durch das Tal hilft.
Was bedeutet das für die Beschäftigten?
Wolf: Wir haben auch während der Pandemie gute Erfahrungen mit Kurzarbeitsgeld gemacht. Da müssen wir ansetzen.
Also eine weitere Verlängerung des Kurzarbeitergeldes?
Wolf: Ja, eine Ausweitung der Kurzarbeit könnte sehr helfen. Wir müssen flexibel reagieren. Letztlich ist es für Beschäftigte immer besser, den Arbeitsplatz zu behalten.
Benner: Ein Beispiel: Im Südwesten haben wir einen Tarifvertrag gemacht, der es ermöglicht, dass Beschäftigte temporär zwischen Unternehmen wechseln können und genau dort arbeiten, wo sie gerade gebraucht werden. Die Beschäftigten behalten ihr Arbeitsverhältnis und damit auch ihr Einkommen.
Arbeitskräfte-Sharing – ein Modell für Deutschland?
Wolf: Im Prinzip: ja. Aber derzeit läuft es in so gut wie allen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie schlecht. Es gibt kaum einen Bereich, der Beschäftigte aufnehmen kann.
Sind mittelständische Zulieferer, die Gussteile für Verbrenner-Motoren oder Getriebe fertigen, überhaupt noch zu retten?
Wolf: Viele dieser Unternehmen haben schon früh auf neue Technologien gesetzt. Auch Mittelständler sind nicht blöd. Die haben Innovationen entwickelt und brauchen jetzt Geld, um die neuen Technologien im Markt zu implementieren. Die Politik muss den Firmen erlauben, höhere Erträge zu erwirtschaften, damit diese wieder investiert werden.
Benner: Entscheidend ist, dass die Politik versteht, wo den Unternehmen der Schuh drückt. Das Verständnis hat in den Ampel-Jahren manchmal gefehlt und ist jetzt da, was viel wert ist. Aber viel wichtiger: Es geht auch um die Beschäftigten, um die Menschen. Gerade für die mit unteren und mittleren Einkommen ist wichtig, dass es für sie steuerliche finanzielle Entlastungen gibt.
Wolf: Und dass sie das Gefühl haben, dass sich Arbeiten für sie lohnt. Wir sollten deshalb auch über das Bürgergeld reden. Wer jeden Morgen zur Frühschicht fährt und nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungskosten genauso viel Geld zur Verfügung hat wie ein Bürgergeldempfänger mit drei Kindern, ist zu Recht unzufrieden. Wir brauchen wieder ein vernünftiges Lohnabstandsgebot.
Benner: Ich glaube nicht, dass die Menschen so viel über Bürgergeldempfänger nachdenken, wie Sie das vielleicht tun. Die Leute wollen ihre eigene Situation verbessern – nicht die anderen verschlechtern. Eine Reform des Bürgergeldes wird die gesellschaftliche Stimmung nicht drehen.
Sondern?
Benner: Die Menschen müssen den Eindruck haben, dass sie für ihre Leistung gerecht entlohnt werden, mit ihrem Gehalt gut über die Runden kommen und keine Angst vor Altersarmut haben müssen. Wir Gewerkschaften helfen da mit guten Tariflöhnen gerne mit. Und wenn die Politik mit pünktlichen Zügen, gut ausgestatteten Kitas und effizienten Verwaltungen auch noch beweist, dass dieses Land funktioniert, dann bekommen wir den Stimmungsumschwung hin.