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Stinnes-Legien-Abkommen

Es ist November 1918 und Deut­sch­land ist in Aufruhr. Er beginnt am 1. November mit dem Kieler Matro­sen­auf­stand. Nur wenige Tage später, am 9. November muss Kaiser Wilhelm II. abdanken und flieht am Folgetag in das hollän­di­sche Exil. Vom Reichs­tags­balkon ruft Philipp Schei­de­mann (SPD) die Republik, vor dem Berliner Schloss Karl Lieb­knecht (Spar­ta­kus­bund/KPD) die freie sozi­a­lis­ti­sche Republik aus. Der Wett­streit um die zukünf­tige Ausrich­tung des nun kaiser­losen Landes ist eröffnet. Der Erste Weltkrieg endet zwei Tage später, am 11. November, in einem Eisen­bahn­waggon mit dem Waffen­still­stand von Compiègne. Es sind Tage, in denen Geschichte geschrieben wird – und in denen Deut­sch­lands Arbeit­geber und Gewerk­schaften ein wegwei­sendes Abkommen vorbe­reiten, dessen Wirkung bis zum heutigen Tag zu spüren ist. Das Stinnes-Legien-Abkommen, über Wochen ab Oktober 1918 in Ruhe und weit­ge­hend ungestört beraten, schließ­lich unter­zeichnet am 15. November 1918, vermut­lich im Berliner Hotel Adlon, begründet die Tarif­au­to­nomie in Deut­sch­land. Nach mehreren Jahr­zehnten harter Ausein­an­der­set­zungen erkannten sich Arbeit­geber und Gewerk­schaften gegen­seitig als Verhand­lungs­partner an und gründeten die Zentrale Arbeits­ge­mein­schaft (ZAG). Bemer­kens­wert war der Zeitpunkt, zu dem das Abkommen im November 1918 zustande kam. Schließ­lich hätten sich die Gewerk­schaften in dieser aufge­wühlten Situation durchaus auf Seiten der Kommu­nisten und Räte­re­pu­bli­kaner stellen können. Statt­dessen schlossen sie das Abkommen mit dem „Klas­sen­feind“ –der Arbeit­ge­ber­seite.

Veröffentlichung des Stinnes-Legien-Abkommens im Reichs-Arbeitsblatt
Foto: Veröffentlichung des Stinnes-Legien-Abkommens im Reichs-Arbeitsblatt

Hugo Stinnes, Carl Legien und ihre Mitstreiter wurden so trotz aller Wider­stände und histo­ri­schen Entwick­lungen zu heim­li­chen Vätern der Tarif­au­to­nomie, des Grund­ge­setzes und der Sozialen Markt­wirt­schaft in Deut­sch­land. Hans von Raumer, Ernst von Borsig, Carl Friedrich von Siemens, Walther Rathenau und der damalige Gesamt­me­tall-Präsident Anton von Rieppel auf Arbeit­ge­ber­seite, Gustav Bauer, Alexander Schlicke, Adam Steger­wald und Gustav Hartmann auf Gewerk­schafts­seite – sie alle leisteten damit unwis­sent­lich einen Beitrag zum Herren­chiem­seer Verfas­sungs­kon­vent knapp dreißig Jahre später. Die in Art. 9 Abs. 3 GG veran­kerte Tarif­au­to­nomie wäre ohne sie und ihr Abkommen nicht denkbar. So argu­men­tierte der damalige Bundes­prä­si­dent Joachim Gauck in einer Rede anläss­lich des 125-jährigen Bestehens von Gesamt­me­tall im Jahr 2015:

„Dieses Abkommen bedeutete nicht nur eine Revo­lu­tion im Verhältnis von Arbeit­ge­bern und Arbeit­neh­mern, es war überhaupt der sozi­al­po­li­ti­sche Grün­dungs­kom­pro­miss der ersten deutschen Demo­kratie. (…) Welche große, auch kultu­relle Leistung es gewesen ist, ein Einver­ständnis zu erzeugen, das der ganzen Gesell­schaft nützt, das sollte man sich immer wieder vor Augen führen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der Neuaus­rich­tung der Demo­kratie im Westen, hat man sich wieder an dieses Koope­ra­ti­ons­ab­kommen erinnert. Man konnte es wieder­ent­de­cken, musste es nicht neu erfinden.“

Tatsäch­lich kam es den an der Entste­hung des Abkommens 1918 Betei­ligten keines­wegs darauf an, ein System für die Ewigkeit zu schaffen. Es ging zunächst ganz prag­ma­tisch um einen Inter­es­se­n­aus­gleich und um die Verhin­de­rung staat­li­cher Eingriffe, sei es von kommu­nis­ti­scher oder räte­re­pu­bli­ka­ni­scher Seite, sowie den möglichst reibungs­losen Fort­be­stand der Arbeits- und Leis­tungs­fä­hig­keit der deutschen Volks­wirt­schaft – auch dies beides Gedanken, die von ihrer Über­trag­bar­keit in das 21. Jahr­hun­dert nichts eingebüßt haben. Der später von sozi­a­lis­ti­scher Seite häufig erhobene Vorwurf, die Gewerk­schaften hätten mit dem Abkommen eine histo­ri­sche Chance vergeben, der Arbeiter­schaft und der Verstaat­li­chung der Industrie zu ihrem Sieg zu verhelfen, verkennt, wie wenig Interesse auch auf der orga­ni­sierten Gewerk­schafts­seite an Chaos und einem völligen Umsturz des beste­henden Wirt­schafts­sys­tems bestand. Man wollte die Konti­nu­ität. Für Gesamt­me­tall war im November 2018 das 100. Jubiläum der Unter­zeich­nung des Stinnes-Legien-Abkommens Anlass für einen Festakt in Berlin. Zeit­gleich veröf­fent­lichte Gesamt­me­tall eine histo­ri­sche Forschungs­a­r­beit über die Entste­hungs­ge­schichte des Abkommens: „Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918 –1924“, verfasst von dem Potsdamer Histo­riker Prof. Dieter Krüger. Dieser schreibt in seinem Werk:

„Vor hundert Jahren stand das Stinnes-Legien-Abkommen für einen Para­dig­men­wechsel in den Arbeits­be­zie­hungen und wurde zu einem Meilen­stein gesell­schaft­li­cher Moder­ni­sie­rung. (…) Die deutsche Nieder­lage im Ersten Weltkrieg und die Novem­ber­re­vo­lu­tion 1918 waren das akute Umfeld für die Durch­set­zung der Tarif- und Sozi­al­part­ner­schaft als Prinzip. Zum tragenden Element der deutschen Gesell­schaft wurde die Sozi­al­part­ner­schaft erst drei Jahr­zehnte später in der west­deut­schen Bundes­re­pu­blik. (…) Den heute außerhalb der Zunft der Sozi­al­his­to­riker fast verges­senen Orga­ni­sa­ti­onen und Persön­lich­keiten, ihren Motiven und Hand­lungs­spiel­räumen, ihrem Ringen um die gemein­same Schnitt­menge ihrer gegen­sätz­li­chen Inter­essen, ihren Visionen, ihren Erfolgen und ihren Nieder­lagen soll ein histo­rio­gra­phi­sches Denkmal gesetzt werden.“

Gesamt­me­tall-Präsident Dr. Rainer Dulger stellte die zentralen Erkennt­nisse von der Unter­zeich­nung des Abkommens während des Festakts am 21. November 2018 in den Mittel­punkt seiner Rede:

„Das revo­lu­ti­o­näre am Stinnes-Legien-Abkommen war, dass es keine Revo­lu­tion war. Dass es nicht den Umsturz, sondern den Ausgleich wollte. Frieden zwischen Arbeit­ge­bern und Gewerk­schaften, statt der Wahl zwischen Staat oder Straße. Tarif­ver­hand­lungen statt Gesetz oder Gesetz­lo­sig­keit. Darin waren sich Arbeit­geber und Gewerk­schaften einig: Sie wollten ihre Ange­le­gen­heiten selbst regeln. Lohn­fin­dung ohne Staat. Arbeits­be­din­gungen ohne Staat. Denn genau das war im Weltkrieg noch alltäg­lich. Die Kriegs­wirt­schaft war staatlich streng reguliert. In einer Zeit, in der die alten Struk­turen infrage gestellt wurden, schufen Gewerk­schaften und Arbeit­geber etwas Neues. Und die Kraft dieser Verein­ba­rung reicht bis zum heutigen Tag. Wir alle können dafür dankbar sein.“