Zum Inhalt springen

„Verantwortungslose Forderung“

Auswir­kungen des Ukraine-Kriegs

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf im Interview mit der Funke Mediengruppe über die Gaskrise, die Tarifrunde in der Metall- und Elektro-Industrie und die Rente mit 70:

Herr Wolf, Russland hat die Gaslie­fe­rungen erneut gedros­selt. Rechnen Sie mit einem voll­stän­digen Gasstopp?

Man darf Putin nicht unter­schätzen, er ist ein Stratege. Würde er jetzt das Gas komplett abstellen, dann würde er uns zwar treffen – aber nicht so hart wie im Oktober oder November. Man kann vermuten, dass der komplette Gasstopp im Herbst kommen wird – zu einer Zeit, in der auch die Privat­haus­halte ihre Gashei­zungen wieder nach oben fahren werden.

Vor allem in Süddeut­sch­land hat man die Sorge, dass im Falle eines Embargos nicht mehr genug Gas anlandet. Dort hat auch Ihr Unter­nehmen, der Auto­mo­bil­zu­lie­ferer Elring­Klinger, seinen Sitz. Fürchten Sie persön­lich einen Gasstopp?

Ein Gasstopp wäre eine extreme Heraus­for­de­rung. Ein Beispiel: In jedem Verbren­nungs­motor befindet sich eine Zylin­der­kopf­dich­tung. Diese Edel­stahl­lagen werden in einem mit Gas betrie­benen Ofen bei 600 Grad Celsius wärme­be­han­delt. Wenn ich diese Wärme­be­hand­lung nicht durch­führen kann, denn werden keine Zylin­der­kopf­dich­tungen produ­ziert und in der Folge keine Verbren­nungs­mo­toren und somit keine Autos gebaut. Elring­Klinger hat einen Markt­an­teil von 60 Prozent bei Zylin­der­kopf­dich­tungen weltweit. Bekommen wir dafür kein Gas mehr, dann stockt der Bau von Fahr­zeugen.

Die Meinungen darüber, wie schlimm ein Gasstopp Deut­sch­land treffen würde, reichen von „verkraftbar“ bis hin zur „Zerstö­rung der Volks­wirt­schaft“. Wo verorten Sie sich auf dieser Skala?

Man kann Krisen immer meistern. Wichtig ist, sich jetzt zu überlegen, wo man bereits Gas einsparen kann. Wirt­schafts­mi­nister Robert Habeck hat gute Vorschläge präsen­tiert. Ganz wichtig ist, dass der Vorrang der Privat­haus­halte bei der Gasver­sor­gung fällt. Wir müssen gezielt schauen, welche Indus­trien system­re­le­vant sind. Wenn wir Privat­haus­halte in einer Mangel­lage beliefern und die Industrie hinten­über­fällt, dann können die Menschen zwar noch Gas beziehen, ihre Abrech­nungen aber trotzdem nicht mehr bezahlen, weil sie arbeitslos werden. Wird die Industrie vernach­läs­sigt, sind Hundert­tau­sende Arbeits­plätze gefährdet.

Der Verbrau­cher­schutz beim Gas ist geltendes EU-Recht.

Es gibt viele euro­pä­i­sche Rege­lungen, die zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als man sich Situa­ti­onen wie die jetzige nicht vorstellen konnte. Deshalb ist die Bundes­re­gie­rung gefordert, klare Kante zu zeigen und im Notfall entspre­chende Vertei­lungen zu ermög­li­chen. Es geht darum, die deutsche Wirt­schaft zu erhalten.

Was wäre ein Kompro­miss bei der Vertei­lung?

Man muss eine intel­li­gente Auftei­lung finden. Die Indus­trien, die elementar auf Gas ange­wiesen sind, müssen wir versorgen. Gehen in der Glas­in­dus­trie wegen fehlenden Gases die Wannen kaputt, entstehen uns Milli­ar­den­schäden. Das müssen wir verhin­dern.

Was ist der Beitrag der Metall- und Elektro-Industrie?

Wir müssen uns in Zukunft mehr Gedanken darüber machen, was es für geopo­li­ti­sche Risiken gibt. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es einen konven­ti­o­nellen Krieg auf euro­pä­i­schen Boden wieder geben wird.

Die Auftrags­bü­cher der Unter­nehmen sind voll, die Gewinne sprudeln. Die Ener­gie­ein­spa­rungen gingen zuletzt aber nur noch mäßig voran. Inves­tieren die Firmen zu wenig in Ener­gie­ef­fi­zienz?

Die Gewinn­si­tua­tion ist extrem unter­schied­lich. Jedes Unter­nehmen hat die Problem­stel­lung erkannt. Das passiert nicht erst seit dem Winter. Die Metall- und Elektro-Industrie arbeitet seit Jahren daran, ener­gie­ef­fi­zi­enter zu werden und grünen Strom zu nutzen. Jetzt sind die Auftrags­be­stände zwar hoch, sie werden aber nicht abgerufen.

Manche Konzerne profi­tieren kräftig von der Krise. Teile der Politik fordern eine Über­ge­winn­steuer.

Von einer Über­ge­winn­steuer halte ich gar nichts. Es gibt Unter­nehmen, die derzeit eine Sonder­kon­junktur haben. Eine Sonder­kon­junktur zu besteuern, halte ich für falsch.

Ist dann auch das Vorgehen der Mine­ra­l­öl­kon­zerne nur eine „Sonder­kon­junktur“ – immerhin ermittelt das Kartellamt?

Von den höheren Sprit­preisen profi­tiert der Staat massiv durch höhere Steu­er­ein­nahmen. Zudem ist der Ölpreis deutlich gestiegen. Auch Mine­ra­l­öl­kon­zerne kämpfen mit Mehr­kosten und die Ermitt­lungen sind abzu­warten.

Wenn Ihrer Meinung nach zu viel Geld an den Staat geht, sollten wir dann den Tankra­batt dauerhaft behalten?

Man kann den Satz der Mine­ra­l­öl­steuer senken. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir in Deut­sch­land fast die höchsten Preise für Benzin und Diesel. Damit werden Pendler massiv getroffen.

Innerhalb der Bundes­re­gie­rung tobt eine Debatte zur Verlän­ge­rung der Lauf­zeiten der Atom­kraft­werke. Sollten die AKWs am Netz bleiben?

Ich halte eine längere Laufzeit der Atom­kraft­werke für absolut notwendig. Eine verlän­gerte Laufzeit der drei noch im Betrieb befind­li­chen Atom­kraft­werke kann die Verstro­mung von Gas deutlich redu­zieren. Und sie kann dazu beitragen, die Strom­ver­sor­gung zu sichern, wenn wirklich kein Gas mehr zu Verfügung steht. Wir müssen aber auch eine Debatte über den Bau von neuen Atom­kraft­werken führen. Weltweit werden derzeit 50 neue Atom­kraft­werke gebaut, die Technik hat sich weiter­ent­wi­ckelt. Die EU hat die Atom­energie gerade erst als grüne Energie gekenn­zeichnet.

Die Taxonomie beim Atomstrom ging vor allem auf das Betreiben Frank­reichs zurück. Dort steht derzeit die Hälfte der Atom­kraft­werke wegen Problemen oder Wartungen still.

Auf EU-Ebene braucht man Gemein­schafts­ent­schei­dungen. Es mag sein, dass Frank­reich das Projekt voran­ge­trieben hat, aber die Entschei­dung wurde gemein­schaft­lich getroffen.

Die Kosten von Atomstrom sind über die gesamte Lebens­dauer eines Kraft­werks gerechnet viel höher als bei erneu­er­baren Energien. Legen Sie nicht einen falschen Fokus?

Der Fokus muss auf erneu­er­baren Energien liegen. Aber unser Gesamt­s­trom­bedarf wird in Zukunft enorm sein. Bei den langen Geneh­mi­gungs- und Bauzeiten hier­zu­lande werden wir ihn niemals mit rege­ne­ra­tiven Energien abdecken können.

Wirt­schafts­mi­nister Robert Habeck warnt davor, dass die drei verblei­benden AKWs gewartet werden müssten – oder wir hätten in einer Zeit von stei­genden Cybe­r­at­ta­cken auf Infra­s­truktur unsichere Meiler.

Das Argument halte ich nicht für ziel­füh­rend. Wir könnten die Atom­kraft­werke weiter­laufen lassen. Die Sicher­heits­ri­siken können wir absichern, wir haben gute Schutz­schirme gegen Cybe­r­an­griffe.

Bayerns Minis­ter­prä­si­dent Markus Söder (CSU) warnt dagegen vor einem Blackout bei der Strom­ver­sor­gung. Teilen Sie seine Sorge?

In der derzei­tigen Situation rechne ich nicht mit Blackouts. Aber es kann zu Versor­gungs­eng­pässen kommen.

Was halten Sie von einem Gaspreis­de­ckel?

Das kommt auf die Ausge­stal­tung an. Grund­sätz­lich bin ich für die freien Rege­lungs­kräfte des Marktes. Sollte sich der Gaspreis nochmal deutlich erhöhen, dann muss man sich neu Gedanken machen.

Ab Oktober soll das Gas-Aukti­ons­mo­dell für Unter­nehmen starten. Ist das eine gute Idee?

Ich halte ein Gas-Aukti­ons­mo­dell nicht für sinnvoll. Es braucht intel­li­gente Verteil­sys­teme. Auktionen treiben nur die Preise nach oben. Die Belas­tungen für alle Unter­nehmen über die hohen Energie- und Mate­ri­al­preise sowie die Trans­port­kosten sind bereits massiv gestiegen. Und in einer solchen Lage fordert die IG Metall acht Prozent mehr Lohn.

Was bedeutet die Forderung für Sie?

Ich halte die Forderung für verant­wor­tungslos und frage mich, ob sich die Verhandler von der IG Metall überhaupt irgend­welche Gedanken gemacht haben. Wir haben bereits ein extrem hohes Lohn­ni­veau in der Metall- und Elektro-Industrie. In der jetzigen Situation muss man eher Verzicht üben. Es geht darum, Arbeits­plätze zu sichern.

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann sieht keine Krise – sondern spricht von unsi­cheren Zeiten auf einer wirt­schaft­lich guten Fakten­lage. Die Zahlen großer Unter­nehmen sprechen bisher ebenfalls eine gute Sprache.

Es gibt das ein oder andere Unter­nehmen, dem es noch gut geht. Vielen Unter­nehmen geht es aber schlecht, etwa mittel­stän­di­schen Betrieben in der Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rung. Wir haben bereits zwei schlechte Jahre hinter uns. Wir liegen in der Produk­tion noch immer 12 Prozent unter dem Niveau des Jahres 2018. Um überhaupt einen Vertei­lungs­spiel­raum zu haben, müssen wir erst wieder auf das Niveau des Jahres 2018 kommen.

Die IG Metall recht­fer­tigt die Forderung auch damit, dass so der Konsum und damit die Konjunktur am Laufen gehalten wird.

Wir brauchen keine acht Prozent mehr Lohn in der Metall- und Elektro-Industrie, um in der Konsum­gü­ter­in­dus­trie die Wirt­schaft am Laufen zu halten. Einen Einfluss hat die Inflation, aber dort sind die Politik und die Euro­pä­i­sche Zentral­bank gefordert. Würden wir die Inflation über eine Lohn­er­hö­hung abfedern, kommen wir in eine Lohn-Preis-Spirale.

Droht aus Ihrer Sicht die Lohn-Preis-Spirale bereits?

Noch sind wir in keiner Lohn-Preis-Spirale, aber die Gefahr besteht bei einem zu hohen Abschluss in der Metall- und Elektro-Industrie.

Gerade in Ihrer Branche machen die Lohn­kosten nur einen Bruchteil der gesamten Produk­ti­ons­kosten aus.

Das kommt ganz auf das jeweilige Unter­nehmen an. Bei Zuliefern spielen Lohn­kosten eine wichtige Rolle.

Rechnen Sie mit Streiks?

Mit Warn­streiks rechne ich auf jeden Fall, das ist ein elemen­tarer Bestand­teil für die IG Metall. Ich hoffe nur, dass die IG Metall sich besinnt und ihr Instru­ment der Ganz­ta­gess­treiks überdenkt. In der jetzigen Situation den Unter­nehmen mit einem Streik hohe Kosten aufzu­bürden, halte ich für falsch.

Ange­sichts der Warn­streiks in Seehäfen hätte sich Arbeit­ge­ber­prä­si­dent Rainer Dulger die Ausrufung eines nati­o­nalen Notstands vorstellen können, der das Streik­recht brechen würde. Wäre so etwas bei einem Gasstopp auch für die Metall- und Elektro-Industrie denkbar?

Grund­sätz­lich muss die Verhält­nis­mä­ßig­keit gewahrt bleiben. Aber wenn es zu solchen Beein­träch­ti­gungen käme, die Schäden in der Wirt­schaft hervor­rufen, dann geht es auch um die Repu­ta­tion Deut­sch­lands.

Ange­sichts des Fach­kräf­teman­gels fordern unter anderem IW-Chef Hüther und Indus­trie­prä­si­dent Russwurm die Einfüh­rung der 42-Stunden-Woche.

Kanzler Olaf Scholz hat von einer Zeiten­wende gespro­chen – die Zeiten­wende ist da, und zwar in allen Bereichen.

Im vergan­genen Jahr haben Sie sich offen für die Rente mit 70 gezeigt. Was ziehen Sie vor – die Rente mit 70 oder die 42-Stunden-Woche?

Schaut man sich die demo­gra­fi­sche Entwick­lung und die Belas­tungen der Sozial- und Renten­kassen an, dann sind die Reserven aufge­braucht. Wir werden länger und mehr arbeiten müssen. Stufen­weise werden wir auf das Renten­ein­tritts­alter von 70 Jahren hochgehen müssen – auch weil das Lebens­alter immer weiter steigt. Ansonsten wird das System mittel­fristig nicht mehr finan­zierbar sein.

Das Interview führten Tobias Kisling und Alexander Klay, Funke Medi­en­gruppe.