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„Wenn Arbeit und Wohlstand wegfallen, haben wir am Ende auch nichts gekonnt“

Gasembargo

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf in der NOZ zu den Folgen des Krieges in der Ukraine und den Auswirkungen auf die Tarifverhandlungen in der M+E-Industrie:

Herr Wolf, der Krieg gegen die Ukraine wird von Tag zu Tag brutaler und die Forderungen nach härteren Sanktionen gegen Russland reißen nicht ab. Was halten Sie von einem Gasembargo?

Ich halte davon überhaupt nichts. Ich kann davor nur dringend warnen. Wir befinden uns in sehr starker Abhängigkeit bei Energie und Rohstoffen aus Russland. Bei Gas schwanken die Angaben zwischen 52 und 55 Prozent des Bedarfs. Und es geht ja auch noch um Öl und Kohle sowie um Nickel, etwa zum Bau von Batterien, um Aluminium, um Stahl. Russland ist ein Riesenlieferant von Rohstoffen, die wir dringend brauchen.

Welche direkten Folgen hätte ein Gasembargo?

Wenn 50 Prozent des Gases fehlen, dann steht die Masse der Betriebe in der deutschen Industrie still. Es geht vor allem um die Chemie- und Glasindustrie, aber auch um die Metall- und Elektro-Industrie. Bei einem Gasembargo droht Millionen Beschäftigten Kurzarbeit und vielen von ihnen später womöglich auch Arbeitslosigkeit. Diejenigen, die Embargos fordern, sind sich über die Tragweite offenbar überhaupt nicht bewusst.

Russland verschärft den Wirtschaftskrieg und will Gas nur noch gegen Rubel verkaufen. Das kann man als Unterlaufen westlicher Sanktionen verstehen. Ändert sich damit Ihre Position zu Gas aus Russland?

Nein, denn es ändert leider nicht unsere Abhängigkeit vom russischen Gas. Da von unserer wirtschaftlichen Stärke nicht nur der Wohlstand, sondern auch unsere Wehrhaftigkeit abhängt, dürfen wir uns nicht selbst wirtschaftlich schwächen.

Wenn es trotzdem zum Schlimmsten kommt, wie sollte man mit einem Gaslieferstopp umgehen?

Wir müssen dringend überlegen, wie man die Lasten verteilen kann. Ich glaube, dass es vielen Menschen dann lieber ist, dass sie mal bei 18 Grad zu Hause sitzen und einen Pullover anziehen, dafür aber ihren Arbeitsplatz behalten. Ob es besser ist, wenn die Menschen jetzt bei 22 Grad zu Hause sitzen, aber aufgrund von Arbeitslosigkeit ihre Nebenkostennachzahlung im Frühjahr nicht leisten können, da habe ich meine Zweifel. Wenn Arbeit und Wohlstand wegfallen, haben wir am Ende auch nichts gekonnt.

Ein Argument gegen ein Embargo ist ja auch, dass man Sanktionen lange durchhalten können muss…

Richtig, ansonsten geht der Schuss nach hinten los – auch weil die Russen nach einem gescheiterten Embargo die Preise deutlich anheben könnten.

Wie lange würde es denn dauern, schrittweise von Gas aus Russland unabhängig zu werden?

Das wird Jahre dauern. Vielleicht kann man in fünf Jahren die ersten nennenswerten Erfolge sehen. Aber auch dann werden wir noch nicht komplett unabhängig sein von russischen Gas- und Rohstofflieferungen.

Bleibt es ansonsten bei der eng vernetzten globalisierten Wirtschaft?

Ich glaube, dass wir weiterhin global aufgestellt sein werden. Es ging und geht ja nicht nur darum, rund um den Globus preisgünstig produzieren und einkaufen zu können, sondern auch darum, Märkte zu erschließen. Wenn die Fahrzeugindustrie zum Beispiel nicht nach China gegangen wäre, würde es den Herstellern heute viel schlechter gehen. Deshalb wird die Globalisierung nicht zurückgedreht werden. Wir exportieren Wohlstand in andere Länder und sichern zugleich Jobs und Wohlstand in Deutschland. Zudem darf man nicht vergessen: Wenn wir uns zurückziehen, dann stehen andere in den Startlöchern. Die werden sich dann die Märkte holen.

Es kann aber sicher nicht alles beim Alten bleiben?

Nein, sicher nicht. Wir sollten wieder mehr in Deutschland oder Europa produzieren, um die Lieferketten zu stabilisieren. Zulieferteile, die wir nur unter Lohnkostengesichtspunkten im Ausland produzieren, sollten wir künftig zum Teil wieder in Deutschland herstellen. Das könnte hier im Übrigen auch neue Arbeitsplätze schaffen. Dann muss der Kunde allerdings auch bereit sein, höhere Preise zu bezahlen.

Der Krieg bremst die Konjunktur. Welches Wachstum erwartet die Metall- und Elektro-Industrie im laufenden Jahr?

Bei anhaltenden Problemen mit der Versorgung und den Lieferketten rechnen wir in der Metall- und Elektro-Industrie mit einem Nullwachstum. Womöglich rutschen wir sogar in die Rezession. Das ist bitter, denn wir hatten ja gerade die Hoffnung, nach den schweren Corona-Jahren wieder an das Niveau von 2018 heranzukommen. Seither haben wir einen ständigen Rückgang gehabt, der sich nun fortsetzen dürfte.

Wie kann man gegensteuern? Welche Hilfen braucht die Wirtschaft?

Ganz wichtig: Die Kurzarbeitsregelung mit der Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen muss bis zum Jahresende verlängert werden. Wir brauchen außerdem attraktive Investitionsmodelle. Zum Beispiel könnte man Unternehmen ermöglichen, eigene Windkraftanlagen zu bauen. Man sollte auch die Mehrwertsteuer auf Energie senken, aber das müssen die EU-Mitgliedstaaten einstimmig erlauben. Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten angesichts des Kriegs mitten in Europa. Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen zusammenwirken und jeder muss seinen Beitrag leisten.

Müssen sich Kunden und Verbraucher auf längere Wartezeiten einstellen?

Ganz bestimmt. Die Lieferzeiten werden sich verlängern, zum Beispiel für Autos, für die besonders viele unterschiedliche Teile gebraucht werden. Auch weiß man nicht, wann die Produktion in der Ukraine mit ihren vielen Zulieferern wieder anläuft. Selbst wenn in Kürze die Waffen schweigen würden, ist ja nicht klar, ob und wann all die Geflüchteten wieder in die Ukraine zurückkehren. Da kann es schon sein, dass einem Betrieb dann 100 oder 1.000 Mitarbeiter fehlen, weil sie zum Beispiel geflüchtet sind.

Trotz der angespannten Wirtschaftslage beharrt DGB-Chef Reiner Hoffmann auf deutlich mehr Geld für die Beschäftigten. Wie hart wird die Tarifrunde für die Metall- und Elektro-Industrie im Herbst?

Wir haben einen massiven Zielkonflikt, denn von steigenden Preisen sind sowohl die Beschäftigten als auch die Unternehmen betroffen. Eine solche Situation hatten wir in dieser Schärfe lange nicht. Ich bin mir deshalb nicht sicher, dass wir im September eine Tarifrunde in der gewohnten Form machen können.

Was wäre die Alternative?

Es wäre nichts gewonnen, wenn wir im Herbst einen zusätzlichen Kostenschub vereinbaren würden und dies dann vielen Unternehmen das Genick brechen würde. Wenn dieser Krieg noch ein paar Monate weitergeht, dann haben wir eine Situation, die deutlich dramatischer ist, als die im März 2020 durch Corona.

Wie kommen wir raus aus der Abhängigkeit von Russland? Und wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Reise von Wirtschaftsminister Habeck nach Arabien?

Es ist richtig, Alternativen zu suchen für Energie aus Russland, frei von Risiken und Problemen ist das aber nicht. Jetzt holen wir noch mehr Energie aus dem Nahen Osten. Aber was ist, wenn es dort zu neuen Krisen oder Konflikten kommt? Kritisch ist auch, dass man so die Abhängigkeit von Russland gegen die Abhängigkeit von Ländern tauscht, die es mit den Menschenrechten alles andere als genau nehmen.

Was genau werfen Sie der Politik vor?

Ich verstehe die Zwänge der Politik ja voll und ganz. Aber die Politik misst hier mit zwei Maßstäben. Deutsche Unternehmen müssen gemäß dem Lieferkettengesetz bis ins letzte Detail nachweisen, mit wem sie zusammenarbeiten, um Verstöße gegen Menschenrechte auszuschließen. Und der Staat, der dieses Gesetz gemacht hat, verstärkt jetzt notgedrungen die Zusammenarbeit mit Katar. Das ist aus der Not heraus geboren, sicher, aber es ist und bleibt ein Widerspruch. Konsequenterweise müsste die Regierung eigentlich sagen: Wir schaffen das Lieferkettengesetz wieder ab.

Sollten wir jetzt noch schneller und entschlossener auf erneuerbare Energien setzen?

Ja, das hätten wir schon viel früher machen müssen. Jetzt ist der Druck brutal hoch. Deswegen hoffe ich auch, dass es endlich einen schnellen Bürokratieabbau gibt. Wir müssen Verwaltungsvorschriften vereinfachen, Genehmigungsverfahren abkürzen, den Rechtsweg einschränken, um endlich schneller und mehr Windkraftanlagen bauen zu können. Von entsprechenden Gesetzesinitiativen habe ich aber noch nichts gelesen.

Das heißt: Wir brauchen einen schlankeren Staat?

Ja, das ist überfällig. Der bürokratisch aufgeblähte Staat muss abspecken. Da gibt es Einsparmöglichkeiten ohne Ende. Es ist zum Beispiel eine Frage, ob der letzte kleine Käfer beim Bau einer Windkraftanlage geschützt werden muss. Da muss man eine Güterabwägung machen und sich fragen: Ist der Käfer wichtiger oder ist der schnelle Bau von Windkraftanlagen wichtiger und damit vielleicht die Autonomie in der Energieversorgung?