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„Wir können in der Tarifrunde zeigen, dass wir zusammen den Standort Deutschland stärken“

Tarif­runde 2024

Interview von Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf mit der Augsburger Allgemeinen über Rente, Arbeitszeit, Bürokratie, die Lage in der Metall- und Elektro-Industrie und das Warten auf Friedrich Merz

Herr Wolf, Ihr Vorstoß für eine Rente mit 70 zumindest für Büro-Jobs erzürnt die IG Metall. Vorstands­mit­glied Urban meinte entsetzt, Ihre Forderung sei verant­wor­tungslos und ein erneuter Beleg für die Ignoranz gegenüber den sozialen Zukunfts­sorgen der Beleg­schaften. Was sagen Sie zu dem Ignoranz-Vorwurf?

Diesen Vorwurf lasse ich so nicht stehen. Ich sage heute und auch in zwei oder drei Jahren: Wir müssen länger arbeiten.

Das ist eine maximal unpo­pu­läre Botschaft.

Die demo­gra­fi­sche Entwick­lung, also die Über­al­te­rung der Gesell­schaft, führt zu massiven Problemen bei der Finan­zie­rung der Renten­ver­si­che­rung. Ich habe unlängst einen Vortrag über lebens­langes Lernen gehört. Der Referent hatte einen großen und einen sehr kleinen Apfel dabei. Er fragte die Teil­nehmer, welchen Jahrgang der große Apfel hat. Alle rätselten. Der Wissen­schaftler sagte, der Apfel stehe für den Jahrgang 1964. Das ist der gebur­ten­stärkste Jahrgang in der bundes­deut­schen Geschichte. 1964 wurden knapp 1,4 Millionen Kinder in Deut­sch­land geboren.

Und der kleine Apfel?

Der kleine Apfel steht für das Jahr 2011, in dem nur etwa 660.000 Kinder geboren wurden. Es fehlen also rund 740.000, die 1964 noch geboren wurden.

Was hat die Äpfel-Metapher mit der IG Metall und dem Ignoranz-Vorwurf von Herrn Urban an Sie zu tun?

Es mutet ignorant an, wenn sich Herr Urban der Über­al­te­rung der Gesell­schaft und den daraus resul­tie­renden Folgen für die Renten­ver­si­che­rung nicht stellt. Ich bin 62 Jahre alt und könnte mich auf den Stand­punkt stellen, dass für meine Gene­ra­tion die Renten­ver­si­che­rung stabil bleibt. Doch ich mache mir hier etwa Sorgen um meine Tochter, die 25 Jahre alt ist. Damit die Rente sicher bleibt, müssen auch die Jüngeren länger arbeiten.

Müssen alle länger arbeiten?

Natürlich nicht. Ich bin nämlich der Über­zeu­gung, dass Menschen, die schwere Tätig­keiten ausüben, also etwa im Stra­ßenbau oder der Produk­tion tätig sind, natürlich nicht länger arbeiten müssen. Wenn aber Beschäf­tigte im Büro sich etwa um die Finanzen, das Control­ling oder die Buch­hal­tung kümmern, warum sollten diese Beschäf­tigten nicht länger arbeiten? Ich bin nicht generell für die Rente mit 70, sondern für intel­li­gente und diffe­ren­zierte Lösungen. Für eine längere Lebens­a­r­beits­zeit spricht auch, dass die Menschen dank des medi­zi­ni­schen Fort­s­chritts immer älter werden.

Was muss die Bundes­re­gie­rung daraus für Konse­quenzen ziehen?

Die Bundes­re­gie­rung muss endlich die Konse­quenzen aus der Über­al­te­rung der Gesell­schaft und der längeren Lebens­zeit ziehen und lang­fristig die Alters­ver­sor­gung der Menschen in diesem Land absichern.

Und zukunfts­o­ri­en­tierte Politiker sollten sich Gedanken machen, wie der Indus­tri­e­standort Deut­sch­land gestärkt werden kann.

Ich kämpfe jeden­falls für den Indus­tri­e­standort Deut­sch­land, auch für einfache Arbeits­plätze in der Produk­tion.

Wie schnell schreitet denn die Dein­dus­tri­a­li­sie­rung in Deut­sch­land ange­sichts zu hoher Ener­gie­preise, über­bor­dender Büro­kratie und des Arbeits­kräf­teman­gels voran?

Die Dein­dus­tri­a­li­sie­rung ist leider bereits im Gange. Unser Standort ist einfach nicht mehr attraktiv. Und das liegt mitt­ler­weile an einer Summe negativer Stand­ort­fak­toren, die die positiven Stand­ort­fak­toren deutlich über­wiegen.

Was veran­lasst Unter­nehmer vor allem, zunehmend Produk­tion ins Ausland zu verlagern?

Es sind viele Faktoren, aber an erster Stelle die extrem hohen Aufwen­dungen zur Bewäl­ti­gung der Büro­kratie. Ich nenne hier etwa das deutsche Liefer­ket­ten­sorg­falts­pflich­ten­ge­setz. Um eines klar­zu­stellen: Ich bin total gegen Menschen­rechts­ver­let­zungen und Kinder­a­r­beit. Doch Deut­sch­land ist nicht in der Lage, weltweit Verstöße gegen Kinder­a­r­beit und Menschen­rechte zu verhin­dern. Wer anderes behauptet, ist naiv. Ich kriti­siere die Gängelung durch die Politik und besonders durch die Grünen.

Warum üben Sie hier so harte Kritik an den Grünen?

Weil solche Büro­kratie den Unter­nehmen jede Menge Geld kostet. Wir brauchen in diesem Land wieder einen klaren Blick dafür, was leistbar und vernünftig ist. Bei manchen spukt offenbar ein negatives Bild von Wirt­schaft und ein negatives Unter­neh­mer­bild im Kopf.

Wirklich?

Ja, diese Politiker glauben, sie müssten Beschäf­tigte vor der Wirt­schaft und den Unter­nehmen schützen. Doch böse Unter­nehmer haben heute keine Chance mehr: Sie bekommen nämlich keine guten Leute, vor allem keine jungen, inno­va­tiven und gut ausge­bil­deten Beschäf­tigten. Unter­nehmer kämpfen heute vielmehr um die Talente.

Haben Sie die Hoffnung aufge­geben, dass die Ampel-Koalition mit Kanzler Scholz an der Spitze noch das Ruder rumreißt? Oder warten Sie auf den Wirt­schafts-Fachmann Friedrich Merz als Kanzler?

Ich befürchte, die Ampel-Koalition kriegt das nicht mehr hin. Und wenn der Bundes­kanzler auf die Kritik von Wirt­schafts­ver­bänden damit antwortet, das sei nur wieder das bekannte Klagelied der Kauf­männer, dann kommt das bei Unter­neh­mern, die täglich von morgens bis abends dafür kämpfen, Arbeits­plätze zu erhalten, schlecht an.

Doch immerhin hat die Bundes­re­gie­rung eine Wachs­tum­s­i­n­i­tia­tive zustande gebracht.

Die Wachs­tum­s­i­n­i­tia­tive enthält sicher­lich einige richtige Ansatz­punkte. Die meisten Punkte dieser Initia­tive stammen von der FDP. Das rechne ich FDP-Chef Christian Lindner sehr hoch an, dass er sich endlich mal durch­ge­setzt hat. Und ich erkenne an, dass SPD und Grüne hier Reformen beschlossen haben, die sie vor einem halben Jahr wohl noch nicht gemacht hätten.

Doch Sie fordern einen richtigen Ruck für Deut­sch­land, eine Art Agenda 2030. Wird daraus noch was?

Die Wachs­tum­s­i­n­i­tia­tive der Bundes­re­gie­rung stellt keinen Ruck dar. Sie ist keine Agenda 2030. Das ist auch kein Anfang, sondern nur ein Anfängle, wie man in Schwaben sagt. Ich bin enttäuscht über die bisherige Bilanz der Ampel-Regierung, wenn man bedenkt, mit welchem Reform- und Moder­ni­sie­rungs­willen diese Koalition einst ange­treten ist. Die Ampel hat bisher nicht geliefert. Dabei verkenne ich nicht, dass die Koalition ein schlecht bestelltes Haus der Vorgän­ger­re­gie­rung unter Kanzlerin Angela Merkel über­nommen hat. In den letzten vier Jahren der Kanz­le­rinnen-Ära von Frau Merkel ist ja quasi nichts mehr passiert.

Nichts passiert? Das klingt nach einer Abrech­nung.

In ihrer letzten Legis­la­tur­pe­riode hat die Regierung Merkel nur noch verwaltet, denn sie fand eine in drei­fa­cher Hinsicht angenehme Situation vor: Es gab noch billiges Gas aus Russland, um die Vertei­di­gung hat sich die USA gekümmert und China war anders als heute ein sensa­ti­o­neller Absatz­markt für deutsche Firmen, die dort ohne Ende Geld verdient haben. Die Wirt­schaft wurde immer weiter belastet und die Stärkung der Wett­be­werbs­fä­hig­keit war kein Thema. Aber mit dem Ukraine-Krieg ist alles in sich zusam­men­ge­bro­chen.

Noch einmal: Warten Sie auf den Wirt­schafts-Retter Merz?

Es braucht Zeit, um den Tanker Deut­sch­land umzu­steuern. Deut­sch­land ist kein Segelboot. Ich hoffe auf eine Wende, wenn Friedrich Merz Bundes­kanzler werden sollte. Meine Hoffnung speist sich aus dem neuen Grund­satz­pro­gramm der CDU, das die Hand­schrift von Friedrich Merz und von CDU-Gene­ral­se­kretär Carsten Linnemann trägt. In dem Programm stecken Punkte, die unsere Wirt­schaft massiv stimu­lieren würden.

Machen Sie sich derweil Sorgen um Deut­sch­land?

Mir macht der Zulauf extremer Parteien in Deut­sch­land große Sorgen, ob es sich um Parteien wie die AfD oder auch um das Bündnis Sahra Wagen­knecht handelt.

Und welche Sorgen bereitet Ihnen die ange­lau­fene Tarif­runde in der Metall- und Elek­tro­in­dus­trie? Die IG Metall fordert ja 7,0 Prozent mehr Lohn.

Viele Unter­nehmen in der Metall- und Elektro-Industrie tun sich schwer damit, die bisher schon sehr hohen Löhne zu zahlen. Seit dem vierten Quartal 2023 befindet sich unsere Branche in der Rezession. Die Auftrag­s­ein­gänge sind mau. Unsere Industrie liegt 15 Prozent unter dem Umsatz des Jahres 2018, was ein heraus­ra­gendes Jahr war. Die Kosten sind seit 2018 aber massiv gestiegen, etwa durch anzie­hende Ener­gie­preise. Das drückt auf die Erträge. Viel zu verteilen gibt es nicht.

Rund 20 Prozent der Metall- und Elek­tro­be­triebe schreiben rote Zahlen. Verbietet sich deswegen ein Kaviar-Abschluss und drängt sich ein Leberkäs-Abschluss auf?

Vergli­chen mit der wirt­schaft­li­chen Lage der Metall- und Elektro-Industrie ist die Forderung der IG Metall deutlich zu hoch. Mein Appell an die Gewerk­schaft lautet deshalb: Wir müssen Maß halten in der Tarif­runde, sonst steigen die ohnehin hohen Löhne in der Metall- und Elektro-Industrie zu stark und der Abstand zu anderen Branchen wie dem Handel oder dem Pfle­ge­be­reich wird immer größer, was diese Berufe unat­trak­tiver macht und zu sozialen Verwer­fungen führt. Es ist nicht mehr attraktiv für junge Menschen etwa eine Ausbil­dung als Erzieher oder Kran­ken­pfleger zu machen. Viele von ihnen drängen wegen der hohen Löhne in die Metall- und Elektro-Industrie. Da arbeiten sie 35 Stunden und verdienen prächtig.

Zum Thema Maßhalten: Eine Forderung nach 7,0 Prozent mehr Lohn, die viel­leicht zu einem Abschluss von rund 4,0 Prozent führt, wirkt heute fast schon maßvoll, haben doch andere Gewerk­schaften wie Verdi etwa für den Öffent­li­chen Dienst des Bundes und der Kommunen 10,5 Prozent gefordert.

Die IG Metall hat nur zweimal in den vergan­genen 30 Jahren, nämlich 2009 und 2022, mit jeweils 8,0 Prozent mehr als jetzt gefordert. Und wenn man in Dienst­leis­tungs­be­rufen 10,5 Prozent drauf­packt, macht das wegen des nied­ri­geren Lohn­ni­veaus deutlich weniger aus, als wenn in der Metall- und Elektro-Industrie die ohnehin hohen Löhne noch einmal um 7,0 Prozent steigen würden.

Wie ernst ist die Lage vieler Metall- und Elektro-Firmen?

Manche Unter­nehmen der Branche, die lange treu zum Standort Deut­sch­land gestanden haben, schreiben schon länger rote Zahlen. Dann überlegen solche Firmen­in­haber, ob sie die Produk­tion ins Ausland verlagern, ob nach China, Indien oder Osteuropa. Das Pendel ist umge­schlagen: Betriebe, die lange treu zum Standort Deut­sch­land standen, denken ange­sichts immer größerer Belas­tungen um. So gehen auch promi­nente Unter­nehmen ins Ausland.

Was sagt das über den Standort Deut­sch­land aus?

Es ist nicht fünf vor zwölf für Deut­sch­land. Wenn beispiels­weise ein an sich heimat­ver­bun­denes Unter­nehmen wie Miele zum Teil aus der Heimat abwandert, ist es für mich viertel nach zwölf für Deut­sch­land.

Theodor Weimer, Chef der Deutschen Börse, glaubt, Deut­sch­land sei ökono­misch gespro­chen auf dem Weg zum Entwick­lungs­land. Überzieht er maßlos?

Gut, dass das mal jemand so deutlich sagt.

Und was passiert, wenn die IG Metall nicht Maß hält und sich nicht wach­rüt­teln lässt?

Ich hoffe, dass die IG Metall Maß hält.

Und wenn nicht?

Die IG Metall und wir als Arbeit­geber der Branche haben nun eine histo­ri­sche Chance: Wir können den Menschen in der Tarif­runde zeigen, dass wir zusammen den Standort Deut­sch­land stärken und Indus­trie­pro­duk­tion erhalten. Dazu bedarf es Vernunft. Dazu gehören immer zwei Parteien. Ich bleibe opti­mis­tisch.

Haben Sie die Hoffnung, was die USA betrifft, nach der Aufgabe von Biden wieder­ge­funden?

Zunächst einmal: Wenn Donald Trump gewählt würde, sähen wir uns doch einem hohen Maß an US-Protek­tio­nismus gegenüber. Der Rückzug von Joe Biden verdient hohe Aner­ken­nung. Dieser Schritt war aber nur folge­richtig, wenn die Demo­kraten bei der Wahl um das Präsi­den­tenamt im Herbst noch ein Wörtchen mitreden wollen.

Sind Sie zumindest zufrieden, dass Europa weiter auf Bestän­dig­keit setzt und Frau von der Leyen als EU-Kommis­sions-Chefin bestätigt hat?

Ich wünsche Frau von der Leyen alles Gute für die zweite Amtszeit. Ich wünsche mir, dass sie mehr auf die Stärkung von Wirt­schaft und Wett­be­werbs­fä­hig­keit setzt und weniger auf Klima­schutz. Denn wenn wir die Wirt­schaft zugunsten des Klima­schutzes opfern, haben wir nichts erreicht. Dann verlieren wir Wohlstand. Dann bestä­tigen wir nur weiter Menschen darin, rechts- oder links­ra­di­kale Parteien zu wählen. Die Wähle­rinnen und Wähler wollen Wirt­schaft, Wohlstand und dass es ihnen gut geht. Sie wollen nicht nur Klima­schutz.