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„Wir könnten 50.000 Arbeitsplätze weniger haben.“

Warnung vor De-Indus­tri­a­li­sie­rung

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf im Gespräch mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe über die Gefahr einer De-Industrialisierung in Deutschland, die Tarifrunde im Herbst, Zölle und die Verkehrs- und Energiepolitik.

Deut­sch­lands Wirt­schaft steckt im Wachs­tums­tief. Wie drama­tisch ist die Lage in der Metall- und Elektro-Industrie?

Die Situation ist extrem schwierig. Viele Unter­nehmen haben große Probleme. Vor allem die Kosten hinsicht­lich Energie, Material und Büro­kratie sind massiv gestiegen, gleich­zeitig haben die Erträge nicht Schritt gehalten. Die Produk­tion in der Metall- und Elektro- Industrie ging im 1. Quartal 2024 um 2,4 Prozent zurück. Aktuell wird in den Unter­nehmen noch 14 Prozent­punkte weniger produ­ziert als 2018, also vor den Krisen. Und auch die Prognosen für die nächsten Monaten sehen düster aus.

In welchen Branchen gibt es die größten Schwie­rig­keiten?

In der Automobil- und Zulie­fer­in­dus­trie, aber auch im Maschi­nenbau herrscht eine große Betrof­fen­heit. Viele Firmen sind sehr zurück­hal­tend. Es wird viel weniger mehr inves­tiert. Wegen der schlechten Rahmen­be­din­gungen hier in Deut­sch­land fließt statt­dessen derzeit sehr viel Geld ins Ausland. Uns sind damit über 300 Milli­arden Euro an Inves­ti­ti­onen verloren gegangen Das ist drama­tisch. Wird hier nicht inves­tiert, leidet lang­fristig die Produk­ti­vität, was dann zu noch weniger Wett­be­werbs­fä­hig­keit führt.

Befürchten Sie eine De-Indus­tri­a­li­sie­rung?

Ich sehe bereits eine begin­nende De-Indus­tri­a­li­sie­rung. Es finden viele Verla­ge­rungen statt – überall hin. Es gibt starke Bewe­gungen in Richtung USA. US-Präsident Bidens „Infla­tion Reduction Act“ war in dieser Hinsicht ein cleverer Schachzug. Es bestürzt mich, dass der Euro­pä­i­schen Union dazu nichts einge­fallen ist. Besonders alar­mie­rend finde ich aber, wenn tradi­ti­ons­reiche Fami­li­en­un­ter­nehmen wie ein bekannter Hersteller von Haus­halts­ge­räten sich dafür entscheiden, eine Erwei­te­rungs­in­ves­ti­tion lieber in Polen durch­zu­führen. Ein anderes Beispiel ist ein Motor­sä­gen­her­steller, der jetzt in die Schweiz geht.

Was ist dort besser?

Da besteht zum Beispiel die Möglich­keit, dass Beschäf­tigte 42 Stunden in der Woche arbeiten. Das sind sieben Stunden mehr als in Deut­sch­land. Und das Lohn­ni­veau ist vergleichbar, zum Teil sogar günstiger. Insofern ist unser Land total unat­traktiv geworden und ist in der Wett­be­werbs­fä­hig­keit abge­stürzt.

Immerhin versuchen Euro­pä­i­sche Union und Bundes­re­gie­rung wichtige Indus­trien, mit milli­ar­den­schweren Subven­ti­onen anzu­sie­deln. Ist das nichts?

Das ist nett. Aber das sind große Subven­ti­onen für Einzel­fälle. Wir brauchen eine Situation, in der die Unter­nehmen wieder aus sich heraus inves­tieren. Dass also entspre­chende Gewinne erwirt­schaftet werden, die dann für Wachstum in Deut­sch­land ausge­geben werden. Das passiert aber nun dann, wenn die Rahmen­be­din­gungen hier stimmen. Statt­dessen haben wir Büro­kratie hoch zehn und die mit höchsten Unter­neh­mens­steuern und Sozi­a­l­ab­gaben überhaupt.

Haben Sie die Hoffnung, dass es der Ampel-Koalition noch gelingt, die große Wirt­schafts­wende zu schaffen?

Das glaube ich nicht. Die Ansätze waren schon gut, aber jetzt hat man das Gefühl, das permanent Unei­nig­keit herrscht. Deswegen ist es auch nichts geworden, mit der Erneu­e­rung des Landes. Dass sich das jetzt bis zur nächsten Bundes­tags­wahl noch ändern soll, da fehlt mir total der Glaube.

Wie lange halten Ihre Firmen die schwie­rige Lage noch ohne größere Entlas­sungen durch?

Naja. Das geht schon los. Größere Auto­mo­bil­zu­lie­ferer haben doch bereits Entlas­sungen ange­kün­digt. Und ich befürchte, dass das eine richtige Dynamik entwi­ckelt. Wenn sich nicht schnell etwas ändert, werden wir einen Abbau von Arbeits­plätzen, gerade bei den eher einfachen Tätig­keiten wie etwa in der Produk­tion, sehen.

Über wie viele Jobs sprechen wir?

Ich schätze, dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren 40.000 bis 50.000 Arbeits­plätze weniger haben könnten. Deshalb müssen wir struk­tu­rell dringend etwas ändern. Was nicht hilft, ist zu beschwich­tigen, und die Lage als konjunk­tu­relle Delle abzutun.

Kann Künst­liche Intel­li­genz auch zum Job-Killer werden?

Im Gegenteil: KI kann dabei helfen, die Produk­ti­vität zu steigern. Das ist ange­sichts der demo­gra­fi­schen Entwick­lung und der schwachen Wirt­schaft­s­ent­wick­lung enorm wichtig, um unsere Wett­be­werbs­fä­hig­keit zu halten. Wir müssen aber aufpassen, dass wir KI auch kontrol­lieren. Hier brauchen wir einen eindeu­tigen und inno­va­ti­ons­freund­li­chen Rechts­rahmen. Aber nicht wie an anderen Stellen mit büro­kra­ti­schen Rege­lungen, wo der Staat alles regle­men­tiert und einschränkt.

Im Herbst steht eine neue Tarif­runde an. Halten Sie ange­sichts der Lage eine hohe Lohn­stei­ge­rung für ange­messen?

Aktuell überhaupt nicht. Wir müssen auch aufpassen, dass wir noch in das gesamt­ge­sell­schaft­liche Gefüge passen. Das Durch­schnitt­s­ein­kommen in der Metall- und Elektro-Industrie liegt bei 68.700 Euro. Seit 2008 sind die Tarif­löhne um 48 Prozent gestiegen, die Inflation im gleichen Zeitraum um 34 Prozent. Darüber hinaus ist die Kosten­be­las­tung für die Unter­nehmen jetzt schon enorm. Treibt man jetzt auch noch die Perso­nal­kosten über das Machbare hinaus weiter nach oben, kann ein zu hoher Lohn­ab­schluss das Fass zum Über­laufen bringen. Am Ende muss man immer noch Kunden haben, die bereit sind, die Preise auch zu bezahlen.

Rechnen Sie ange­sichts von Bauern­pro­testen und Lokfüh­rer­streiks mit einer neuen Qualität bei möglichen Arbeits­nie­der­le­gungen in der Metall- und Elektro-Industrie?

Ich hoffe es nicht. Das wäre sicher auch nicht ziel­füh­rend. Wir wollen das vernünftig regeln. Wir haben die Chance, gemeinsam zu beweisen, dass Tarif­part­ner­schaft auch konstruktiv gelebt werden kann.

Man hat zum Teil den Eindruck, der jungen Gene­ra­tion sei der Arbeits­wille abhan­den­ge­kommen. Teilen Sie diese Sicht?

Es gibt viele hoch­mo­ti­vierte junge Menschen, die anpacken möchten. Es gibt auch welche, die eigene Leistung für nicht mehr so wichtig halten. Wir müssen die jungen Menschen wieder zu mehr Leis­tungs­be­reit­schaft erziehen. Da ist etwas verloren gegangen in den vergan­genen Jahren, und da muss sich meine Gene­ra­tion auch an die eigene Nase fassen. Ich finde, Leistung kann was Schönes sein. Man hat Erfolgs­er­leb­nisse. Deswegen bin ich auch dagegen, Noten in der Grund­schule abzu­schaffen oder bei den Bundes­ju­gend­spielen keine Urkunden mehr zu vergeben. Geht uns in Deut­sch­land der Leis­tungs­ge­danke noch stärker verloren, frage ich mich, wie wir eigent­lich noch wirt­schaft­lich erfolg­reich sein sollen.

Sollte die Rente mit 63 abge­schafft werden?

Ich halte die Rente mit 63 Jahren für einen Riesen­fehler. Ein gene­relles Herauf­setzen des Renten­ein­tritts­al­ters auf 68 oder 70 halte ich aber auch für falsch. Hier braucht es diffe­ren­zierte Wege. Ein Weg wäre, die Einkommen von Menschen, die gerne länger und neben der Rente arbeiten wollen, teilweise oder ganz steu­er­frei zu stellen. Hier gibt es viele Denk­mo­delle.

Die USA haben zum Schutz ihrer Wirt­schaft Straf­zölle auf wichtige chine­si­sche Produkte einge­führt, darunter auch E-Autos. Sollte die EU diesem Vorbild folgen?

Ich bin ein glühender Verfechter des freien Welt­han­dels. Zölle sind eine schlechte Maßnahme und haben auch im histo­ri­schen Rückblick lang­fristig immer geschadet. Die Aktion der USA ist ein Wahl­kampf­ma­növer, aber wirt­schaft­lich nicht ziel­füh­rend. Kaum jemand kauft in den USA ein E-Auto aus China. Die EU sollte dem Beispiel auf keinen Fall folgen. Falls doch, hätte das schwere Folgen für die deutsche Wirt­schaft. Ein Handels­kon­flikt würde die Inflation erneut anheizen. China könnte im Gegenzug beispiels­weise Straf­zölle auf die Einfuhr von deutschen Premi­um­fahr­zeugen erheben. Mercedes, BMW, Audi, Porsche setzen in China aber den Großteil ihrer großen Wagen ab und verdienen dort richtig viel Geld. Wir würden uns mit Straf­zöllen selbst schaden.

In Deut­sch­land hinkt die E-Mobilität den gesteckten Zielen weit hinterher. Was läuft falsch?

Elek­tro­fahr­zeuge sind zu teuer. Solange E-Autos 40.000 Euro und das vergleich­bare Verbren­ner­mo­dell nur 25.000 Euro kostet, werden sich Verbrau­cher für die güns­ti­gere Variante entscheiden. E-Autos fehlt noch die breite Akzeptanz.

Woran liegt das?

Die Infra­s­truktur fehlt, insbe­son­dere auf dem Land, aber auch in Städten. Extrem kontra­pro­duktiv war auch die plötz­liche Strei­chung der Förderung für E-Autos bei gleich­zeitig rekord­hohen Strom­preisen. Wer wirklich E-Mobilität will, muss auch konstante Rahmen­be­din­gungen setzen und die Strom­preise redu­zieren. Zudem muss die Infra­s­truktur ausgebaut werden. Das Ganze bringt aber auch nur dann etwas, wenn Fahrzeuge mit grünem Strom betrieben werden – und nicht mit Strom aus Kohle­kraft­werken. Schlecht ist deshalb, dass der Ausbau der Windkraft wegen zu hoher Büro­kratie viel zu langsam vorangeht.

Werden neue Verbren­ne­r­autos in Europa tatsäch­lich 2035 verschwinden?

Ich glaube nicht. China will erst 2060 aus dem Verbrenner aussteigen, die USA gar nicht. Europas Auto­in­dus­trie wäre gut beraten, weiter Verbren­ne­r­autos zu bauen. Zudem sollte man mehr auf synthe­ti­sche Kraft­stoffe setzen. Damit ließen sich auch die heute noch rund 46 Millionen Verbrenner CO2-neutral fahren. Sollte das Verbrenner-Aus in Europa kommen, wird es 2030 bis 2033 wahr­schein­lich nochmal eine Sonder­kon­junktur für Verbrenner geben, weil sich viele einen Benziner oder Diesel kaufen werden. Ab 2035 wird die Auto- und Zulie­fer­in­dus­trie dann einen massiven Umsatz­ein­bruch erfahren.

Sollte Deut­sch­land ange­sichts des hohen Strom­bedarfs wieder in die Atomkraft einsteigen?

Ich befür­worte Atomkraft. Es gibt heute kleine, kompakte Atom­kraft­werke, die nicht mit früheren Meilern vergleichbar sind. Atomstrom ist grün und völlig CO2-frei. Rund 60 AKW sind weltweit aktuell im Bau – auch in Japan. Der Ausstieg Deut­sch­lands war ein Fehler. Die letzten drei AKW hätte man 2023 weiter­laufen lassen sollen. Diese hätten das Strom­pro­blem und die hohen Preise abge­fe­dert. Aktuell werden viel zu wenig Wind­ener­gie­an­lagen gebaut. Um aus der Kohle auszu­steigen, werden derzeit Gaskraft­werke gebaut. Doch die Gaskraft­werke reichen nicht. Wir laufen deshalb in die nächste Versor­gungs­lücke. Ich wäre für einen Wieder­ein­stieg in die Atomkraft. Doch dies ist politisch in der Ampel nicht durch­setzbar.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Entsor­gung und Endla­ge­rung ungelöst sind.

Das stimmt, ist natürlich aber auch eine Frage des poli­ti­schen Willens. Ande­rer­seits gibt es mögliche Entsor­gungs­stätten, doch dort protes­tieren meistens die Anwohner dagegen.

Gibt es vermehrt Strom­aus­fälle in Unter­nehmen?

Das kommt immer wieder vor. Viele arbeiten mit Notstrom­ag­gre­gaten. In manchen Betrieben können Strom­aus­fälle auch Milli­o­nen­kosten verur­sa­chen – wie in der Halb­leiter- oder Glas­in­dus­trie. Wir brauchen eine bezahl­bare und verläss­liche Strom­ver­sor­gung.