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„Die Schuldenbremse ist eine Ungerechtigkeitsbremse“

Wirt­schafts- und Finanz­po­litik

Gastbeitrag von Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf in der FAZ über verdoppelte Steuereinnahmen, Priorisierung von Ausgaben und Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen

Es war Fußball-Euro­pa­meis­ter­schaft und die nieder­län­di­sche Mann­schaft kam nicht pünktlich zur Pres­se­kon­fe­renz, weil die Bahn nicht fuhr. Die jüngsten PISA-Ergeb­nisse sind ein Desaster. Und die Wirt­schaft stagniert, statt mit klima­neu­tralen Lasten­rä­dern die Welt zu erobern. Und wer ist schuld daran? Wenn man so manchem zuhört: Die 418 Bundes­tags­ab­ge­ord­neten, die am 29. Mai 2009 dafür gestimmt haben, die Schul­den­bremse im Grund­ge­setz zu verankern.

Seitdem, so klingt es immer wieder, ist einfach nicht genug Geld da, um unsere Infra­s­truktur aufrecht­zu­er­halten, um innere und äußere Sicher­heit zu gewähr­leisten, um unseren Kindern lesen, schreiben und die Zins­rech­nung beizu­bringen – und dabei haben wir die Klima­the­matik noch gar nicht ange­spro­chen. Das alles ist nicht neu. Schon 2015 hat eine vom damaligen Bundes­wirt­schafts­mi­nister Sigmar Gabriel einge­setzte Kommis­sion unter Führung von – natürlich – Prof. Marcel Fratz­scher, dem Präsi­denten des Deutschen Instituts für Wirt­schafts­for­schung, eine Inves­ti­ti­ons­lücke von 100 Milli­arden Euro ausge­macht. Damals hieß es, es solle auf Bundes­ebene eine Fest­le­gung geben, uner­war­tete Haus­halts­über­schüsse vorrangig für öffent­liche Inves­ti­ti­onen zu verwenden, vor allem im Bereich Infra­s­truktur.

Nun, 2015 betrugen die gesamten Steu­er­ein­nahmen in Deut­sch­land 673 Milli­arden Euro. 2023, also gerade einmal acht Jahre später, waren es 915 Milli­arden Euro – also über 240 Milli­arden Mehr­ein­nahmen im Vergleich zu 2015. Und selt­sa­mer­weise sind die angeb­li­chen Probleme trotzdem allesamt noch da. Dafür haben wir aber unter anderem die Mütter­rente, die „Rente mit 63“ und das Bürger­geld.

Vergan­genes Jahr hatte der Staat mehr als doppelt so viel Geld wie vor 20 Jahren zur Verfügung. Und trotzdem ist es ihm nicht möglich gewesen, seine Kern­auf­gaben zu finan­zieren? Oder, den Intellekt der Wähle­rinnen und Wähler fast noch belei­di­gender: Man will uns allen Ernstes erzählen, dass die Politik mit doppelt so vielen Einnahmen ihre Aufgaben nicht erledigt bekomme, es aber nun ganz anders laufen werde, wenn es zusätz­liche Schulden wären?

Aufgabe der Politik ist es, die Ausgaben syste­ma­tisch durch­zu­gehen, zu prio­ri­sieren und zu sparen. Das ist immer mit einer Aufga­ben­kritik verbunden. Es ist zum Beispiel nicht Aufgabe der Politik, erst durch staat­li­ches Handeln die Produk­tion am Standort unwirt­schaft­lich zu machen und dann durch Einzel­fall­sub­ven­ti­onen nur die Produkte produ­zieren zu lassen, die sie selbst für wünschens­wert hält. Lang­fristig nach­haltig sind nur Inves­ti­ti­onen, die auf der Kauf­ent­schei­dung der Kunden beruhen. Deshalb ist Mark­t­er­folg das einzige ehrliche Kriterium und deshalb ist die einzige kluge Indus­trie­po­litik eine hori­zon­tale, die für wett­be­werbs­fä­hige Rahmen­be­din­gungen sorgt.

Die Schul­den­bremse ist kein Problem. Sie verhin­dert keine einzige Inves­ti­tion. Sie verhin­dert lediglich, dass man sich vor Entschei­dungen drücken kann und man dann diese Flucht vor der Verant­wor­tung von kommenden Gene­ra­ti­onen bezahlen lässt.

Natürlich ist es einfacher und konflikt­freier auf Kosten von Schulden unbe­quemen Diskus­si­onen aus dem Weg zu gehen. Und natürlich gibt es sehr viele Ideen, wofür man Geld ausgeben könnte. Manche von den Ideen sind viel­leicht sogar gut. Aber: Wer die Schul­den­bremse schleifen will, hat kein Interesse an den Inves­ti­ti­onen, sondern will Geld abbe­kommen – oder es weiter verteilen können, um Wähler­stimmen zu kaufen.

Ich bin seit mehr als 40 Jahren auf verschie­densten Ebenen mit der Politik verbunden. Ich habe sehr viele kluge, nach­denk­liche, aufrechte Menschen in der Politik kennen­ge­lernt, quer durch die Parteien hinweg. Ich mache mir aber auch keine Illu­si­onen über die Zwänge, denen man als Mandats­träger ausge­setzt ist.

Aber die Prio­ri­sie­rung vorzu­nehmen und zu vertei­digen ist einer der wesent­li­chen Gründe, aus denen wir Volks­ver­treter wählen. Wer sich vor diesen Entschei­dungen drücken will, darf sich nicht um die Aufgabe bewerben.

Im Jahr 2024 geben wir 37,5 Milli­arden Euro für Zinsen aus. Das sind 37.500.000.000 Euro, von denen kein Bahnhof saniert wird, keine Schule gebaut und kein Rettungs­sa­ni­täter bezahlt werden kann.

Die Schul­den­bremse verhin­dert, dass man sich weiterhin zu Lasten kommender Gene­ra­ti­onen vor unbe­quemen Entschei­dungen drücken kann. Damit ist die Schul­den­bremse eine Unge­rech­tig­keits­bremse. Sie schützt den Steu­er­zahler gene­ra­ti­o­nen­über­grei­fend vor schwachen Poli­ti­kern. Im Übrigen ist sie schlicht geltendes Recht. Sich an die Vorgaben des Grund­ge­setzes zu halten, sollte doch für alle Akteure im poli­ti­schen Raum selbst­ver­ständ­lich sein. Viel­leicht erinnert sich jemand an den Spielfilm „Dave“ von 1993. Kevin Kline spielt den US-Präsi­denten und dessen Doppel­gänger. In einer Szene möchte er ein Projekt finan­zieren, bekommt aber gesagt, dafür sei kein Geld da. Darauf schmug­gelt er einen Freund, einen Buch­halter, ins Weiße Haus, um den Haushalt Posten für Posten durch­zu­gehen. Genau das macht auch jeder Haushalt und jedes Unter­nehmen, das sparen muss. Wenn die Ampel das nicht schafft, vermit­teln wir gerne erfahrene Sanierer.