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„Selbst nach Einschätzungen des Gewerkschaftsinstituts rutschen wir 2023 in eine Rezession.“

Tarif­runde in der M+E-Industrie

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf im Reutlinger General-Anzeiger über die Zukunft des Industriestandorts Deutschland und die schwierige Lage der Metall- und Elektro-Industrie:

Herr Wolf, Sie vertreten in der Tarif­runde die Inter­essen der Metall­a­r­beit­geber. Gleich­zeitig geht es ange­sichts explo­die­render Ener­gie­kosten auch um die Zukunft des Indus­tri­e­stand­orts Deut­sch­land. Kann man mit einer Nullrunde den Wirt­schafts­s­tandort retten?

Ich glaube, dass wir den Wirt­schafts­s­tandort erhalten und Indus­trie­na­tion bleiben können. Da geht es nicht um eine einzelne Tarif­runde, wie auch immer diese ausgeht. Dafür müssen sich die Stand­ort­fak­toren in unserem Land dringend ändern. Dazu zählen nied­ri­gere Unter­neh­mens­steuern, Abbau der Büro­kratie – und die Sozi­a­l­ver­si­che­rungs­bei­träge dürfen nicht die 40-Prozent-Marke über­steigen. Die Lohn­kosten sind also nur ein Teil.

Wie stark belasten die Ener­gie­kosten die Unter­nehmen in der Metall- und Elektro-Industrie?

Der Preis für Indus­tri­e­strom ist im September 2022 im Vergleich zu 2020 um 250 Prozent und der für Gas um über 700 Prozent gestiegen. In der Metall- und Elektro-Industrie betrugen die Ener­gie­kosten 2020 rund 14,5 Milli­arden Euro. Für 2022 rechnen wir mit über 40 Milli­arden Euro. Und für das Jahr 2023 droht ein weiterer Anstieg um rund 10 Milli­arden Euro. Innerhalb von drei Jahren stiegen die Ener­gie­kosten also von weniger als 15 Milli­arden auf über 50 Milli­arden Euro. Das zeigt die Dramatik. Hinzu kommt: Durch die starken Schwan­kungen kann man kaum mehr kalku­lieren.

Fürchten Sie, dass die Ener­gie­kosten in Deut­sch­land auch länger­fristig so hoch bleiben?

Ich glaube, dass durch das Weiter­laufen der drei Atom­kraft­werke der Strom­preis sinken wird. Die Entspan­nung wäre noch größer, wenn wir bereits still­ge­legte Meiler wieder ans Netz nehmen würden. Noch besser wäre es, wenn wir neue, moderne Atom­kraft­werke bauen würden. Insgesamt wird die Atom­de­batte zu einseitig geführt. Die Meiler, die wir jetzt haben, sind über 30 Jahre alt. Es wäre sicherer, neue Kern­kraft­werke zu bauen. Natürlich ist die Atomkraft nicht risikolos und nicht unum­stritten, aber die Tech­no­logie hat sich weiter­ent­wi­ckelt. Das darf man nicht igno­rieren. Unab­hängig davon bin ich aber dafür, die Wind­energie auch in Baden-Würt­tem­berg massiv auszu­bauen. Doch das allein wird nicht reichen. Deshalb braucht es auch die Atomkraft.

Wie schätzen Sie den aktuellen Stand der Tarif­runde in der Metall- und Elektro-Industrie ein?

Wir haben, aber das ist nicht unge­wöhn­lich in dieser Situation, einen Ziel­kon­flikt zwischen Arbeit­geber- und Gewerk­schafts­seite. Am Ende muss der Tari­f­ab­schluss die wirt­schaft­liche Realität und die unter­schied­liche Lage bei den Unter­nehmen abbilden. Die Situation ist gerade so unsicher, dass es fast unmöglich ist, eine halbwegs seriöse Einschät­zung für die weitere wirt­schaft­liche Entwick­lung vorzu­nehmen. Ja, wir haben Unter­nehmen, denen geht es noch ganz gut. Wir haben aber auch jetzt schon ganz viele Unter­nehmen, denen es verdammt schlecht geht. Erste Insol­venzen hat es auch bereits gegeben. Aktuell haben wir die größte Ener­gie­krise in der Geschichte der Bundes­re­pu­blik. Und es ist klar, dass die Kosten­be­las­tung für die Unter­nehmen, insbe­son­dere im Bereich Energie, 2023 noch einmal deutlich ansteigen wird. Das alles werden wir im weiteren Verlauf der Verhand­lungen berück­sich­tigen müssen.

Wie unter­schied­lich sind derzeit die Ergeb­nisse der Unter­nehmen? Wie sind die Auftrags­be­stände?

Wir liegen bei Umsatz­ren­diten vor Steuern von minus 30 bis plus 10 Prozent. Die Auftrags­be­stände sind zum Teil sehr hoch, aber sie bröckeln im Moment massiv. Viele Kunden haben ihr Einkaufs­ver­halten nicht geändert, obwohl sie weniger produ­zieren. Deshalb sind die Auftrags­be­stände nicht echt. Da ist viel drin, was nicht kommen wird. Ganz viele der Aufträge, die im Bestand sind, wollen unsere Unter­nehmen auch gar nicht haben, weil sie mit denen Verluste schreiben. Die Preise für diese Teile sind gerade im Zulie­fe­rer­be­reich teilweise vor zwei oder vier Jahren bei ganz anderen Material- und Ener­gie­preisen kalku­liert worden. Da sind die Firmen froh, wenn ein solcher Auftrag gerade nicht abgerufen wird. Deshalb finde ich es ein bisschen schräg, wenn die IG Metall immer mit den guten Auftrags­be­ständen argu­men­tiert.

Bei einer Stei­ge­rung der Verbrau­cher­preise von zehn Prozent ist doch aber eine Lohn­for­de­rung von acht Prozent noch bescheiden, oder nicht?

Die IG Metall hat jahr­zehn­te­lang bei der Lohn­for­de­rung mit dem Produk­ti­ons­fort­s­chritt und der Zielin­fla­tion der Euro­pä­i­schen Zentral­bank von zwei Prozent argu­men­tiert, obwohl wir damals eine Inflation von null Prozent hatten. Nun macht die IG Metall einen System­schwenk und begründet ihre Forderung unter anderem mit der realen Infla­ti­ons­rate. Das ist ein logischer Bruch. Zudem befürchte ich ein Ausein­an­der­driften der Gesell­schaft, wenn Arbeit­nehmer in der Metall­in­dus­trie viel mehr verdienen als in anderen Branchen. Das durch­schnitt­liche Brut­to­jah­res­ent­gelt in der Metall­in­dus­trie in Baden-Würt­tem­berg liegt bei über 66.000 Euro. Auf diesem hohen Lohn­ni­veau ist es legitim, wenn man Maßhalten einfor­dert, damit es nicht noch mehr Ungleich­heit in der Gesell­schaft gibt.

Sie fordern also eine Nullrunde.

Ich habe das immer für ein Alter­na­tivs­ze­nario beschrieben: Durch eine Gasman­gel­lage würde es zu Produk­ti­onss­topps und Liefer­ket­te­na­b­rissen kommen, womit die Industrie und mit ihr die gesamte Wirt­schaft in den freien Fall gerieten. Die Gemein­schafts­dia­gnose rechnet in einem solchen Szenario mit einem Wirt­schaft­s­ein­bruch von 8 Prozent. In so einem Fall würde sich dann auch jede Vertei­lungs­de­batte erübrigen.

Warum haben die Arbeit­geber bislang noch kein Angebot zur Lösung des Tarif­streits gemacht?

Die Situation war bisher einfach schwer abzu­schätzen. Selbst nach Einschät­zungen des Gewerk­schafts­in­sti­tuts rutschen wir 2023 in eine Rezession. Im Durch­schnitt gehen die Institute von einer Schrump­fung der deutschen Wirt­schaft im nächsten Jahr um 0,9 Prozent aus. Wir sind einfach in einer ganz unsi­cheren Situation.

Die dritte Runde der Tarif­ver­hand­lungen beginnt am 27. Oktober, kurz vor Ablauf der Frie­dens­pflicht.

Davon hängt es nicht ab, ob wir ein Angebot machen können.

Wann rechnen Sie denn mit einem Tari­f­ab­schluss?

Da fällt es mir ganz schwer, eine Prognose abzugeben. Dafür müssen die beiden Seiten deckungs­gleich gebracht werden – und das ist dieses Jahr so schwer wie schon lange nicht mehr wegen Inflation und Rezession.

Sie haben von Mate­ri­al­pro­blemen geredet und von „schlechten Aufträgen“ – wie stark würde ein Arbeits­aus­fall die Betriebe derzeit überhaupt treffen?

Ein Streik trifft immer. Zu glauben, ein Streik würde gar nicht treffen, das stimmt nicht. Manche Unter­nehmen trifft ein Streik sehr hart, andere weniger oder gar nicht.

Welche Kompo­nenten sollte ein Abschluss berück­sich­tigen?

Tarif­ver­träge müssen auch für die Unter­nehmen verkraftbar sein, denen es wirt­schaft­lich schlecht oder weniger gut geht. Deshalb sind die daue­r­hafte auto­ma­ti­sche Diffe­ren­zie­rung und Vari­a­bi­li­sie­rung so wichtig, um auf betriebs­in­di­vi­du­elle Gege­ben­heiten reagieren können. Ein wichtiges Element ist für mich auch, die von der Politik zur Verfügung gestellte Möglich­keit von steuer- und sozi­a­l­ab­ga­ben­freien Sonder­zah­lungen von bis zu 3.000 Euro zu nutzen. Zudem ist mir eine gewisse Planungs­si­cher­heit wichtig. Deswegen bin ich für eine lange Laufzeit des Tarif­ver­trags.

Welches wird der Pilot­be­zirk werden?

Ich halte alle Tarif­ge­biete für abschluss­fähig. In welchem der elf Tarif­ge­biete der Pilot­ab­schluss statt­findet, steht aber noch nicht fest.

Welche Rolle spielt Gesamt­me­tall?

Gesamt­me­tall koor­di­niert die Verhand­lungen in den elf Tarif­ge­bieten. Wo der Pilot­ab­schluss gelingt, hängt von vielen Faktoren ab und ist auch Teil des Verhand­lungs­pro­zesses.

Was sagen Sie zu den Vorwürfen, die in der Illus­trierten Stern gegen Sie erhoben wurden? Die Rede ist von einer Werks­schlie­ßung, Lohn­dum­ping und einer schwa­rz­be­schäf­tigten Haus­häl­terin in ihrem Privat­haus.

Zu den persön­li­chen Vorwürfen werde ich mich nicht öffent­lich äußern. Zum Thema Werks­schlie­ßung in Langen­zenn: Elring­Klinger hat sich viele Gedanken für den Bereich Abschirm­technik gemacht. Dieser Geschäfts­be­reich ist rück­läufig, weil insbe­son­dere in Europa weniger Fahrzeuge mit Verbren­nungs­motor herge­stellt und daher weniger ther­mi­sche und akus­ti­sche Abschirm­teile benötigt werden. Dieser Nach­fra­ge­rü­ck­gang hat sich durch die Corona-Pandemie noch einmal beschleu­nigt. Zudem herrscht in diesem Bereich ein gewisser Preis­druck. Nach langer Über­le­gung haben wir uns dazu entschieden, Planungen aufzu­nehmen, die Produk­tion am Standort Langen­zenn bei Nürnberg still­zu­legen. Die Entwick­lungs­ab­tei­lung – das sind rund 40 Arbeits­plätze – bleibt dort am Standort oder stand­ortnah weiterhin bestehen. Es wurde ein Sozi­al­plan verein­bart, den die Arbeit­s­agentur als „großzügig“ bezeichnet hat.

Und was ist mit Lohn­dum­ping?

Dazu kann ich nur sagen, dass wir ein tarif­ge­bun­denes Unter­nehmen sind und uns an den Tarif der Metall- und Elektro-Industrie halten. Die Eingrup­pie­rung in Entgelt­gruppen erfolgt über eine pari­tä­ti­sche Kommis­sion, die mit Vertre­tern der Arbeit­geber- und Arbeit­neh­mer­seite besetzt ist. An diese Empfeh­lungen haben wir uns immer gehalten. Die Einstu­fung unserer Arbeits­kräfte in Entgelt­gruppen erfolgt ausschließ­lich in Zusam­me­n­a­r­beit und mit Zustim­mung des Betriebs­rates. Wie soll denn in so einer Situation Lohn­dum­ping möglich sein?

Das Gespräch führten Uwe Rogowski und Davor Cvrlje, Reut­linger General-Anzeiger.