Zum Inhalt springen

„Die Bundesregierung hat nach den Versäumnissen der Merkel-Zeit einen Modernisierungskurs versprochen.“

Drin­gender Reform­be­darf in Deut­sch­land

Deutschland ist fast überall zurückgefallen. Was endlich anders werden muss, hat Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander im Interview mit der NOZ aufgezeigt:

Herr Zander, Ukraine-Krieg, explo­die­rende Ener­gie­preise, Liefe­r­eng­pässe sowie akuter Rohstoff-, Material- und Arbeits­kräf­temangel – haben Sie ange­sichts der vielen poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Heraus­for­de­rungen manchmal Mitleid mit der Bundes­re­gie­rung?

Leider ist Mitleid keine Kategorie in der Politik. Die Bundes­re­gie­rung hat unserem Land nach den Versäum­nissen der Merkel-Zeit einen Moder­ni­sie­rungs­kurs verspro­chen, und den muss sie liefern. Die Lage ist sehr ernst. Leider muss man sagen: Deut­sch­land ist kein modernes Land mehr. Infra­s­truktur, Bildung, Digi­ta­li­sie­rung, hohe Steuern, hohe Sozi­a­l­ab­gaben, hohe Ener­gie­kosten – Deut­sch­land fällt in vielen Bereichen zurück und ist nicht mehr wett­be­werbs­fähig. Die Rahmen­be­din­gungen passen nicht mehr. Inves­ti­ti­onen finden woanders statt. Die Aufgabe der Moder­ni­sie­rung ist gewaltig, aber es ist nun mal das Verspre­chen und die Aufgabe einer Bundes­re­gie­rung, das hinzu­be­kommen.

Mit dem Wachs­tums­chan­cen­ge­setz und dem Einstieg in den Büro­kra­tie­abbau will die Ampel die Wirt­schaft wieder auf Kurs bringen. Reichen die Maßnahmen aus, um das Land aus der Rezession zu bringen?

Nein, das wird nicht reichen. Beides geht eindeutig in die richtige Richtung, um die Wirt­schaft zu entlasten, dabei darf man aber nicht stehen bleiben. Es geht ja nicht um ein kurz­fris­tiges Konjunk­tur­pro­gramm. Wir benötigen jetzt eine Ange­bots­po­litik, damit die Inflation bekämpft wird und wieder Wachstum entsteht. Außerdem müssen Steuern und Abgaben sinken, damit die Menschen Leis­tungs­willen haben. Den Büro­kra­tie­abbau müsste die Ampel sehr viel ambi­tio­nierter angehen. Bundes­jus­tiz­mi­nister Buschmann macht einen guten Job, aber manche Minis­te­rien, zum Beispiel Umwelt oder Arbeit und Soziales, haben kaum enga­gierte Vorschläge gemacht, da kommt viel zu wenig. Außerdem geht es ja nicht nur um den Abbau von Büro­kratie, sondern es muss vor allem um künftige Büro­kra­tie­ver­hü­tung gehen. Es ist wenig gewonnen, wenn wir einzelne Rege­lungen abschaffen, um dann an anderer Stelle wieder neue Regu­lie­rung zu bekommen.

Nennen Sie doch mal ein Beispiel!

Beim Liefer­ket­ten­ge­setz, das die unter­neh­me­ri­sche Verant­wor­tung für die Einhal­tung von Menschen­rechten in den globalen Liefer­ketten garan­tieren soll, will Wirt­schafts­mi­nister Habeck dem Vernehmen nach einige Berichts­pflichten streichen, das ist gut. Gleich­zeitig soll auf euro­pä­i­scher Ebene aber eine verschärfte Liefer­ket­ten­richt­linie kommen, von der die Kommis­sion plötzlich auch noch sagt, die Umsetzung werde die Unter­nehmen nichts kosten. Dabei hatte die EU-Kommis­sion ursprüng­lich noch selbst von 10.000 bis 100.000 Euro gespro­chen, je nach Unter­neh­mens­größe. Das passt alles nicht zusammen. Wir lehnen die Liefer­ketten-Richt­linie scharf ab. Die Bundes­re­gie­rung sollte sich dafür einsetzen, dass es dazu nicht kommt. Die deutsche Wirt­schaft braucht endlich einen Regu­lie­rungs­stopp.

Fehlt Ihnen ein hartes Durch­greifen von Bundes­kanzler Olaf Scholz?

Der Kanzler muss alle Minis­te­rien deut­li­cher als bisher auf das Ziel Büro­kra­tie­abbau und -verhütung verpflichten. Es dürfte schließ­lich auch in seinem Sinne sein, wenn Deut­sch­land dyna­mi­scher wird und Tempo aufnimmt. Zur nächsten Bundes­tags­wahl wird die wirt­schaft­liche Perfor­mance zählen.

Einer­seits kriti­sieren Unter­nehmer zu viel staat­liche Regu­lie­rung, ande­rer­seits rufen sie nach Unter­stüt­zung, wenn das wirt­schaft­liche Umfeld schwierig ist. Wie passt das zusammen?

Ich nenne ein Beispiel: Bei der Forderung nach einem Kurz­a­r­bei­ter­geld ging es um die Erstat­tung des Sozi­a­l­auf­wands, um die Beschäf­tigten zu halten. Das hat in der Finanz­krise und in der Corona-Pandemie gut geklappt. Unsere Branche hat 2019 bis 2021 etwa 200.000 Leute verloren, bis dato aber schon wieder rund 120.000 Stellen aufgebaut. Es macht also Sinn, wenn der Staat in solchen Momenten eingreift.

Nun fordern Gesamt­me­tall und andere Verbände vergüns­tigten Strom für ener­gi­e­in­ten­sive Unter­nehmen…

Dass der Strom so teuer geworden ist, ist ja auch eine Folge der poli­ti­schen Entschei­dung, vorhan­dene Strom­quellen still­zu­legen. 25 Cent pro Kilo­watt­stunde sind im Vergleich zu drei bis sechs Cent wie in China, Frank­reich oder den USA nicht wett­be­werbs­fähig. Wenn aber Grund­s­t­off­in­dus­trien wie Stahl, Chemie, Papier oder Keramik ins Ausland abwandern, besteht die Gefahr, dass auch Verede­lungs- und Vera­r­bei­tungs­schritte der Produkte und die entspre­chende Forschung nicht mehr hier­zu­lande statt­finden. Das kann gesamt­wirt­schaft­lich nicht gewollt sein. Wir dürfen keine Indus­trie­sub­stanz verlieren. Ein Brücken­strom­preis, der zeitlich begrenzt sein würde, könnte hier für Entlas­tung sorgen, bis die Verknap­pung des Energie- und Stro­man­ge­bots durch das Hoch­fahren grüner Tech­no­lo­gien, sprich der Erneu­er­baren, ein Ende hat. Profi­tieren sollte davon aber nicht nur die besonders ener­gi­e­in­ten­sive Industrie, sondern auch Betriebe, die sich den teuren Strom nicht mehr leisten können.

Und wer finan­ziert das?

Ich möchte an dieser Stelle nicht den Bundes­haus­halt durch­flöhen, bin mir aber sicher, dass es noch Töpfe gibt, die man nutzen kann…

Woran denken Sie?

Der Energie- und Klima­fonds beispiels­weise ist noch gut beschickt. Es wäre zu überlegen, ihn zur Finan­zie­rung des Brücken­stroms anzu­zapfen.

Kommt die Soziale Markt­wirt­schaft ange­sichts der heutigen multiplen Krisen­lage an ihre Grenzen?

Unser Gesell­schafts- und Wirt­schafts­mo­dell fußt auf der Grundlage der freien, nach Wett­be­werbs­re­geln funk­tio­nie­renden Markt­wirt­schaft plus sozialem Ausgleich für all jene, die Hilfe brauchen. Das hat über Jahr­zehnte gut funk­tio­niert. Im Moment schränken wir die Freiheit des Marktes aber immer weiter ein in der Erwartung, dass der soziale Ausgleich schon irgendwie erwirt­schaftet wird. Das funk­tio­niert aber nicht. Die Sozi­al­staats­quote liegt inzwi­schen bei 33 Prozent, der Sozi­a­l­ver­si­che­rungs­bei­trag liegt bei 41 Prozent­punkten. Wenn das alles weiter steigt, droht jede wirt­schaft­liche und gesell­schaft­liche Dynamik zu ersticken. Der Sozi­al­staat braucht eine Inventur und muss effi­zi­enter werden, damit die Hilfe auch da ankommt, wo sie gebraucht wird.

Auch die Einwan­de­rung verur­sacht stetig steigende Sozi­al­kosten. Was muss hier geschehen?

Einer­seits braucht die Wirt­schaft Fach­kräfte aus dem Ausland. Ande­rer­seits droht ein Übermaß an Migration die Akzeptanz für Einwan­de­rung zu zerstören. Die Menschen, die zu uns kommen, müssen inte­griert werden und sich auch inte­grieren lassen. Wir brauchen für Flücht­linge und Asyl­be­werber ein Mindestmaß an sozialer Absi­che­rung, das hat das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt so entschieden. Aber man muss die Menschen auch in Richtung Arbeit und Inte­gra­tion moti­vieren. Ob unser Sozi­al­staat da so richtig aufge­stellt ist, daran habe ich meine Zweifel.

Das heißt?

Wir brauchen einen zweiten Asyl­kom­pro­miss wie seiner­zeit 1993 mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen. Das reicht von der Frage, ob wir das indi­vi­du­elle Asylrecht aufrecht­er­halten können, über Sach­leis­tungen und gemein­nüt­zige Arbeit bis hin zur Frage, welche staat­liche Ebene verant­wort­lich ist für Abschie­bungen, damit sie endlich gelingen und nicht immer wieder die Falschen abge­schoben werden.